"Ich kann mir nicht vorstellen, dass dem tragischen Tod jener 17-jährigen Schülerin eine klassische Magersucht vorausgegangen ist", betonte der Leiter der Jugendpsychiatrie der Landesnervenklinik Wagner Jauregg in Linz, Primar Werner Leixnering, im Gespräch mit dem STANDARD. Der Tod des Mädchens in einer kleinen Gemeinde nahe Steyr war am Dienstag bekannt geworden, die Mutter hatte drei Tage lang nichts bemerkt.

Andere Schuldfrage

Man dürfe die Ursache für diese Tragödie nicht in einem "Krankheitsbild des Kindes suchen". Vielmehr deute einiges auf eine "ausgeprägte Familienpathologie hin", so der Jugendpsychiater. Die Tatsache, dass weder die Mutter noch die drei Brüder den Tod des Mädchens über Tage hinweg bemerkten, sage "sehr viel für das familiäre Umfeld aus".

Darüber hinaus liege die Vermutung nahe, dass "nicht die mangelhafte Ernährung alleine, sondern irgendein Endauslöser letztlich den Tod herbeigeführt hat". Denn ein Gewicht von 38 Kilogramm bei einer Größe von 1,55 Meter bedeutet "auf keinen Fall den sicheren Tod". Ein "Endauslöser" könnte zum Beispiel ein "vollständiger Nahrungsentzug über mehrere Tage sein, der sich eben bei einem unterernährten Jugendlichen dann fatal auswirkt", so Leixnering.

Dem stimmt auch der Wiener Jugendpsychiater Max Friedrich zu, der von einem "krankhaften Erziehungsstil" der Mutter spricht.

"Familie lebte zurückgezogen"

In der kleinen Gemeinde Wolfern im Bezirk Steyr-Land saß der Schock am Mittwoch noch tief: "Wir können das Ganze noch nicht fassen. Die Familie lebte sehr zurückgezogen", schildert Bürgermeister Franz Schillhuber gegenüber dem STANDARD die Familiensituation. Die Mutter habe sehr in sich gekehrt gelebt. Ausgeprägt sei vor allem aber immer "der religiöse Wahn gewesen", erzählt das Gemeindeoberhaupt. "Nach dem Auffinden ihrer toten Tochter habe die Mutter zum Beispiel ganz gelassen gemeint, dass ihr Kind genauso 'wie der Lazarus' wieder aufstehen wird", so Schillhuber.

Auslöser für die Persönlichkeitsveränderung der Mutter sei vor allem "die Trennung vom Vater der Kinder im Jahr 2001 und der Konkurs einer einst gut gehenden Getreidemühlenfirma" gewesen. Die drei Brüder hätten sich "nur wenig um die Eigenheiten der Mutter gekümmert". Zusätzlich zur veganen Ernährung daheim - also dem völligen Verzicht auf tierische Produkte - besuchten die drei Burschen regelmäßig ein örtliches Fastfoodlokal oder aßen bei einer Tante. Nicht so aber die 17-Jährige: "Das Mädchen stand voll hinter ihrer Mutter und war ihr quasi hörig."

Vonseiten der Gemeinde sei man sich aber "keiner Schuld bewusst". Es habe ab dem Zeitpunkt, als das Mädchen vor rund eineinhalb Jahren krankheitshalber nicht mehr zur Schule kam, regelmäßige Kontrollbesuche durch die Jugendwohlfahrt gegeben. "Am 11. Mai 2004 waren wir zum letzten Mal bei dem Mädchen. Ihr Gesundheitszustand war an diesem Tag auf keinen Fall lebensbedrohlich, was auch von einem begleitenden Arzt bestätigt wurde", so der Bürgermeister.

Auch der zuständige Bezirkshauptmann Hans Zeller betonte im STANDARD-Gespräch, dass es sich "um einen tragischen Einzelfall handelt, der aber in keiner Weise absehbar war". Gegen Vorwürfe wehrt sich Zeller entschieden: "Jetzt sind wieder alle im Nachhinein klüger. Wir haben auf jeden Fall alles Erdenkliche getan. Die Kontrollmechanismen haben sicher nicht versagt." (Markus Rohrhofer/DER STANDARD, Printausgabe, 27.5.2004)