Die Zukunft der Fußballberichterstattung kann man zur Zeit in der Werbepause sehen. Da wirbt ein Telekommunikationsgigant für "Live-Bilder aufs Handy" von der Fußballeuropameisterschaft in Portugal. "Ganz nah dran" heißt der Slogan für die Bildmitteilungen, die laufen gelernt haben. Dazu zeigt der Werbespot computeranimierte Fußballszenen, die nicht vom Spielfeldrand gefilmt wurden, sondern aus einer geradezu revolutionären Perspektive: Die Kamera steckt im Ball. Ein altes Versprechen der Fernsehkultur wird da endlich eingelöst. Der Zuschauer ist nicht einfach nur dabei, wie der Fan auf der Haupttribüne, sondern ist drin, ein rundes Kameraauge, das an Schienbeinen und Torwarthänden vorbei ins Netz rollt. Der Zuschauer ist im Ball.

Bei der realen Europameisterschaft wird der Kamera-Ball nicht zum Einsatz kommen, trotzdem sollen in Portugal laut Fußball- und Fernsehikone Günther Netzer "neue Standards in der Berichterstattung" gesetzt werden. 28 Kameras werden das Finale am 4. Juli in Lissabon filmen; mit Zeitlupe, Zoom und Weitwinkelobjektiv, um den Sport noch intensiver betrachten zu können. Alle Fernsehzuschauer werden während der Spiele das so genannte "Weltbild" sehen, das die Agentur "European Broadcasting Services 2004" (EBS) für die 60 TV-Stationen zentral produziert. Auf den Sende- und Kameraplan haben die nationalen Fernsehsender nur wenig Einfluss. "Das Weltbild wird allen gerecht. Während des Spiels greifen wir da nicht mehr ein", sagt Stefan Kanzler, Sport-Regisseur beim ZDF, "das wäre auch technisch zu kompliziert." In der Vor- und Nachberichterstattung aber verwenden große Sender wie ARD und ZDF eigene Kameras und Bilder. Das österreichische Fernsehen hingegen übernimmt das EBS-Bild komplett. Laut Pressesprecher Christian Huber ist der ORF insgesamt mit zehn Mann in Portugal, zwei mobile Reporter-Teams und vier Kommentatoren, die einen österreichischen Akzent über das Weltbild legen sollen.

Im Atlantik-Pavillon, in dem die Medien-Armada stationiert ist, wird auch das "Weltbild" produziert. Dabei musste die EBS verschiedene TV-Traditionen und Sonderwünsche der einzelnen Rechte-Inhaber in einen Kameraplan vereinen, der alle Beteiligten zufrieden stellt. Denn die Sehgewohnheiten der Zuschauer - und damit auch ihre Erwartungen an eine gelungene Übertragung - erklärt ZDF-Mann Stefan Kanzler, sind je nach Nation und Sendebereichszugehörigkeit "in Nuancen verschieden". In England etwa habe man einen eher untersichtigen Blick auf das Spiel. In Deutschland zeige man es eher aus der Totalen.

Seit Fußball hauptsächlich per Fernseher wahrgenommen wird, hat sich der alte Satz, dass die Wahrheit irgendwo auf dem Platz herumliege, überholt. Man sieht, was einem gezeigt wird. Auf dem Kameraplan der EBS sind die Aufnahmegeräte um das Spielfeld herum wie Geschütze positioniert. Da gibt es die "Main Match Cameras" unter dem Stadiondach, die das Spiel aus der Totalen betrachten. Kamera 13, "für dynamische Einstellungen der Aktion auf der Innenseite" und Kamera 11, für "Action-Details hinter dem Tor". Und am Spielfeldrand flitzen zwei Steadycams auf Schienen die Seitenlinie entlang. Schneller ist nur der Ball. Jede Kamera hat ein spezielles Objektiv, bestimmte Perspektiven und Aufgaben. Wer hat den Ball? Wo schießt er in hin? War das nicht Abseits? All diese Fragen müssen die Bilder in Sekunden beantworten. Totale: Abschlag Torhüter - Schnitt - Close-Up: Kopfballduell am Mittelkreis - Schnitt - Totale: Ball rollt ins Aus - Schnitt - Close-Up: Ärger im Gesicht der Spieler.

Bei dem Versuch, eine gute Sportberichterstattung zu beschreiben, sagte der Regisseur Jean-Luc Godard einmal, es komme vor allem "darauf an, die Arbeit des Körpers im Zeitverlauf zu zeigen. Diese Priorität ist heute leider verschwunden." Das große Ganze wurde dem spektakulären Moment geopfert - so seine Kritik. Doch noch immer werden mehr als 80 Prozent des Spiels aus der Totalen gezeigt. "Alles andere würde die Zuschauer zu sehr verwirren", meint Stefan Kanzler.

Fußball ist wie ein Theaterstück: Triumph oder Tragödie, junge Helden und der Schiedsrichter als der schwarze Mann. Niemand weiß, wie die Geschichte endet, ein Drehbuch gibt es aber trotzdem. Im Standard-Skript der EBS 2004, das bei jedem EM-Spiel zur Aufführung kommt,

werden Aufwärm- und Singübungen der Sportler vor dem Spiel immer wiederunterbrochen von "City-Feature", "Beauty-Shot" und "Stadium-Atmosphere". Auch dem einsamen Fernsehzuschauer daheim im Wohnzimmer soll so ein Eindruck vom tobenden Hexenkessel vermittelt werden. Dann wird der Pulsschlag der Sendung schneller: "Handshake", "Toss of Coin", noch 30 Sekunden, noch zehn, ein letzter "Wide Shot" in die flimmernde Luft, dann endlich der Kickoff.

Seit der Fußball-Europameisterschaft im Jahre 2000 ist es Standard bei Sportübertragungen, virtuelle Items wie Abseits- und Abstandslinien über das Bild zu legen. Dieser Service wird von der EBS nicht angeboten. ARD und ZDF nutzen deshalb ihre eigene Technik, um die Frage nach Abseits abschließend zu klären und etwa die Mannschaftsaufstellung auf das Spielfeld zu projizieren. Die virtuellen Folien kann nur der Fernsehzuschauer sehen. Er ist die Hauptperson, nicht der Fan im Stadion. Nur der Fernsehzuschauer hat Gewissheit über Abseits und Wahrheit einer spielentscheidenden Szene.

Dieser Vorsprung an Wissen und der Blick der eigentlich präsenten Fans auf die Rückseite der Kamera zeigen, dass die Zeiten vorbei sind, in denen Elias Canetti die Arena noch mit Recht als "Mauer von Menschen"
beschrieb,
"die sich nach
innen entladen" müsse. Heute entlädt sich der Superdome nach außen, in die angeschlossenen Funkhäuser und Wohnzimmer.

In zeitgemäßen Stadien und Arenen ist das Kameraauge überall, an der Eckfahne, im Torwinkel, auf dem Tennisnetz, unter dem Stadiondach, am Kran oder am Zeppelin. Das Sportstadion wird zu einem Riesenscanner, dem nichts mehr entgeht. Der Kamera-Ball mag zwar noch Zukunftsmusik in den Ohren der Fußball-Regisseure sein. Doch auch in Portugal werden High-Tech-Kameras benutzt, um den Sport einmal mit anderen Augen zu sehen. Hinter den Toren flitzen Wasp-Kameras durch den Stadioninnenraum, die Geräte sind mit Seil und Schienen befestigt und per Joystick zu bedienen. Und am Spielfeldrand stehen sechs Super-Slow-Motion-Kameras bereit.

Wenn Sportgeschichte geschrieben wird, hat eine Sekunde viele Hundert Einzelbilder, der schockgefrostete Fußballer steht für das Auge ganz nackt da. "Die Zeitlupen liefern die emotionalen Pakete für den Zuschauer", erklärt Stefan Kanzler die Bedeutung der Wiederholung. In Zeitlupe kann man die geschwollene Ader auf der Stirn sehen, die verzerrten Gesichter, echte Gefühle. "Man muss mit den Zeitlupen aber bis zu einer Spielunterbrechung warten", sagt Stefan Kanzler. Die Inszenierung soll sich nicht über den Spielverlauf legen. "Erst dann kann man die Aktion in ihrer ganzen Schönheit genießen." (DER STANDARD, Printausgabe/Rondo, Freitag, 28. Mai 2004)