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Nach dem ausladenden Meisterwerk "69 Lovesongs" veröffentlicht der New Yorker Songwriter Stephin Merritt mit seiner Band The Magnetic Fields das egozentrische Folgewerk "I" (Warner). Kammer-Pop auf Sigmund Freuds Couch.


"I die when you walk by. So beautiful and strong. Each day you pass my way in your bubble where nothing goes wrong. You think your youth, a permanent truth. But here is a tear for your eye: Having forgotten how to cry. I die".

Armer Stephin Merritt. Fünf Jahre nach der in der Popgeschichte bis dahin quantitativ dichtesten Abhandlung des Themas Liebe mit der Dreifach-CD-Box 69 Lovesongs, wirkt er nicht so, als hätte sich in seinem (Liebes-)Leben viel zum Besseren gewandt. Er gibt sich noch egozentrischer, was dem angestrebten Glück in der Zweisamkeit den Weg zusätzlich erschwert. Sein neues Album heißt I, so wie in "Ich".

Eingespielt mit jener Band, die als Erfüllungsgehilfe für Stephin Merritts obsessive Betrachtungen rund um das Four-Letter-Word "Love" fungiert, The Magnetic Fields. Lustwandelte das wenig subtil Kamasutra anrufende Projekt 69 Lovesongs in seiner musikalischen Bandbreite noch zwischen allen möglichen Stilen wie Schlafzimmer-Country, Gospel für Atheisten, Kinderdisco, Rockabilly und vor allem Pop, übt sich Merritt auf I zölibatär in Selbstbeschränkung: Nur mit Gitarre, Banjo, Cello, Klavier und Schlagzeug findet er sein Auskommen. Was das für ihn bedeuten muss, verdeutlicht der extra angebrachte Vermerk "No Synths" im Booklet.

Stephin Merritt ist ein New Yorker wie aus einem Woody-Allen-Film. Ein Stadtneurotiker, hauptgemeldet zwischen Genie, Wahnsinn und dem Scheitern am Alltäglichen. Neben Popalben arbeitet der angeblich seit einem Einstürzende-Neubauten-Konzert Hörgeschädigte an Filmmusiken und als Musikjournalist für die New York Times oder die Village Voice. Neben den Magnetic Fields betreibt er noch andere Bandprojekte, die je nach Laune zum Einsatz kommen: Future Bible Heroes und die weniger egomanische Band The 6ths'. Für Letztgenannte lädt er Gäste ein, die in seinem privaten Mikrokosmos tragende Rollen spielen.

So sind etwa auf dem steinerweichenden Album Hyacinths And Thistles Vokalisten wie Marc Almond oder die Soul-Folksängerin Odetta zu hören. Sally Timms von den Mekons erhebt darauf ebenso ihre Stimme wie New-York-Folkie Melanie (Brand New Key!), während einem Bob Mould (Hüsker Dü) mit dem wunderbaren He Didn't das Herz bricht.

Mit seinem klassischen Songwriting, das Merritt Vergleiche mit den Berufssongschreibern des New Yorker Brill Building aus den frühen 60ern einträgt, stellt sich der Zyniker kunstvoll neben sämtliche Trends. Auch auf I bleibt er sich damit treu. Jeder Song beginnt mit dem Buchstaben "I" und meint meist auch sich selbst. Wer darauf eine Ansammlung von Pop-Perlen wie auf 69 Lovesongs erwartet, wird enttäuscht: Oft kammermusikalisch anmutend präsentieren sich Merritts komprimierte Kleinode, die in ihrem selbstverzweifelten Pathos an Scott Walker erinnern. Gut drauf ist Merritt nie. Im besten Fall ist er des Zynismus fähig wie in I Wish I Had An Evil Twin.

Ein Song wie ein Psychogramm: Merritt wünscht sich darin einen Zwilling, der zu all dem fähig ist, wofür ihm selbst der Mut, die Kraft und die Gehässigkeit fehlen. Die emotionelle Tiefe dieser seiner Stellvertreterkriege erschüttert. Man hört, wie Merritt sich in seinen Songs zur Offenheit zwingt. Das Genie auf der Couch. Musik als Therapie, als öffentlich aufgeführter Exorzismus an den eigenen Dämonen. Möge der Mann noch viele solcher Sitzungen veröffentlichen. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.5.2004)