Lateinamerika und die Karibik sind eigentlich die Weltregion, die Europa in kultureller, sprachlicher und demografischer Hinsicht am nächsten steht. Die Region selbst sieht sich auch viel lieber als Szenario für eine Integration "`a la Europa" als für die "Amerikanische Freihandelszone Zone" (FTAA) und der "Nordamerikanischen Freihandelzone" (NAFTA). In diesem Licht wird auch das 3. Gipfeltreffen zwischen der EU und Lateinamerika stehen, das von 28. bis Mai in Guadalajara abgehalten wird.

Die jüngste europäische Entwicklung, die Erweiterung der Union von 15 auf 25 Mitglieder, wäre eine gute Gelegenheit, die europäische Perspektive für den Subkontinent wieder einmal zu erneuern, zumal die Lateinamerikaner gerade anhand der EU-Newcomer viele Ähnlichkeiten mit dem alten Kontinent entdecken können. Zum Beispiel: In der EU leben acht Prozent der Weltbevölkerung, in Lateinamerika sieben.

Allerdings: Das Einkommen Europas beträgt ein Viertel des Welteinkommens, während Lateinamerika sich mit mageren sechs Prozent begnügen muss. Und während die Exporte europäischer Produkte 38 Prozent der Weltexporte ausmachen, erreichen die lateinamerikanischen gerade noch fünf Prozent. Gleichzeitig verschlingt Europa 35 % der weltweiten Ausfuhren, Lateinamerika kauft nur 5,4 %. Insgesamt bedeutet dies, dass – bei annähernd gleicher Bevölkerungszahl – die EU etwa ein Drittel des Welthandels kontrolliert, während Lateinamerika knapp auf ein Zwölftel kommt.

Mexiko, das lateinamerikanische Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen (jährlich 6000 US-Dollar) kommt in dieser Liga noch am ehesten an die EU-Neuerwerbungen Ungarn (8378) und Tschechien (8242) heran. Die ewige EU-Anwärterin Türkei liegt im Pro-Kopf-Ranking gleichauf mit Argentinien (3533) und Uruguay (3275).

BIP-Vergleich: Die EU besitzt ein Bruttoinlandsprodukt, das sechsmal so groß ist wie das der 20 lateinamerikanischen Ländern zusammen. Deren Gesamt-BIP ist zwar doppelt so groß wie das von Spanien, erreicht aber nicht das Niveau von Deutschland und liegt nur knapp über dem von Italien.

Unbestreitbar ist Europa für Lateinamerika heute der wichtigste Gesprächs-, Handels- und Wirtschaftspartner: Die EU hat sich für die Schaffung des MERCOSUR (eine Freihandelszone zwischen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) stark gemacht; Europa liefert technische und organisatorische Hilfe für die regionale Integration; gegenwärtig laufen Verhandlungen für ein politisches und wirtschaftliches Assoziationsabkommen zwischen MERCOSUR und EU, mit einem innovativen Angebot für begünstigten Agrarhandel. Und seit dem Startschuss 1984, ist der anfangs zur Befriedung Zentralamerikas gedachte "Dialog von San José" für beide Partner zum wichtigsten Verhandlungsforum in Sachen Demokratisierung und Integration geworden. Zudem unterstützt die EU bereits seit 1969, dem Gründungsjahr der "Comunidad Andina", auch die Integration der Andenländer. Auch hier gibt es ein gemeinsames Forum, das sich demokratiepolitischen Problemen, Fragen der Menschenrechte und dem Kampf gegen den illegalen Drogenhandel widmet.

Die längste und intensivste Beziehung pflegt die EU mit den karibischen Ländern. Die EU hat die Integrationsbestrebungen des CARICOM (12 karibische Inseln) und dessen Einbindung in die allgemeinen EU-Abkommen mit ehemaligen Kolonien in Afrika, Karibik und Pazifik (AKP) gefördert, wie auch die Zusammenarbeit mit einer Reihe weiterer Länder, die sehr divers und problematisch sind, nämlich Surinam, Dominikanische Republik, Haiti und, noch immer akut schwierig, ja fast unmöglich, mit Kuba.

Bemerkenswerterweise sind die konkretesten Abkommen immer mit einzelnen Ländern geglückt, so zum Beispiel mit Mexiko (NAFTA- Mitglied) im Jahr 1997 und Chile (das sich bisher allen Integrationsinitiativen fern gehalten hat) im Jahr 2002.

Eines der großen Hindernisse in der Zusammenarbeit zwischen Europa, Lateinamerika und Karibik ist die Präsenz der USA und deren Insistieren auf die Vorzüge der geographischen Nähe und des Freihandels. Außerdem führt die laufende EU-Erweiterung zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen mit Osteuropa, das nun nach der Integration viel attraktiver für Joint Ventures und zukünftige Abenteuer ist: Die neuen EU-Länder bieten fixe gesetzliche Garantien, hoch qualifizierte Arbeitskräfte, offene Wirtschaften und nun auch direkten Zugang zu einem 450-Millionen-Markt.

Andererseits ist die Entwicklungszusammenarbeit der EU viel zu schwach, um die herrschende Ungleichheit und die soziale Ausgrenzung zu lindern. Gleichzeitig werden die Widerstände gegen regionale Integrationsansätze wieder akut und erschweren zusätzlich die internationale Konkurrenzfähigkeit. – Es gibt noch viel zu tun.

(DER STANDARD, Printausgabe, 28.5.2004)