Dass sich Metin Kaplan, der selbst ernannte "Kalif von Köln", der Verhaftung durch Flucht entzogen hat, ist nicht nur peinlich für die Polizei. Dies zeigt vielmehr symptomatisch die Probleme im Umgang mit Islamisten und so genannten Hasspredigern auf, die der Staat und die Behörden in Deutschland - und nicht nur dort - haben. Es geht um die Frage, wie viel Toleranz die Staatsgewalt im Umgang mit radikalen Vertretern einer Religion eigentlich walten lassen kann.

In Zusammenhang mit Kaplan müssen sich die deutschen Behörden sicherlich den Vorwurf gefallen lassen, viel zu lange gewartet zu haben. Jahrelang konnte Kaplan seine Hetztiraden verbreiten, immer mehr Anhänger um sich scharen und sogar drei Mal öffentlich einen Mordaufruf aussprechen. Erst zwei Jahre nachdem sein schärfster Rivale von Unbekannten ermordet worden war, wurde Kaplan festgenommen und verurteilt.

Erst zwei Jahre nach seiner Verhaftung wurde seine Organisation verboten, die sich zu einem millionenträchtigen Unternehmen entwickelt hat. Die Reaktion seiner Anhänger war, dass sie den Sitz einfach in die benachbarten Niederlande verlegten. Dort wurde bisher noch nicht gegen die Islamistenorganisation eingeschritten, was die Notwendigkeit einer europaweiten Vorgangsweise in diesem wichtigen Sicherheitsbereich einmal mehr vor Augen führt.

Es war auch blauäugig, Kaplan nach seiner Haftentlassung die Auflage zu erteilen, sich nur einmal pro Woche bei der Polizei zu melden. Gegen die Auflage, Köln nicht zu verlassen, hat er verstoßen: Kaplan ist nachweislich mehrfach in Baden-Württemberg gesichtet worden. Auch den Behörden muss zu Ohren gekommen sein, worüber auch Medien berichteten: dass Kaplan unverdrossen weiterhin seine Hasskampagnen betreibt und einen islamistischen Gottesstaat für die Türkei fordert.

Schon grob fahrlässig war, dass die Polizei im Vorfeld nicht genügend Vorbereitungen getroffen hat, als ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster zu Kaplans möglicher Abschiebung in die Türkei anstand. Dass die Behörden nun meinen, es sei nicht zu erwarten gewesen, dass sich Kaplan der Verhaftung und damit der Abschiebung durch Flucht entziehe, ist angesichts der Vorgeschichte schier unglaublich.

Dabei haben es die deutschen Behörden ohnehin schwer, überhaupt gegen Islamisten oder radikale Prediger vorzugehen. Denn es gelingt ihnen nur selten, in Zentren und Moscheen hineinzukommen, in denen solche Hassprediger tätig sind. Normale Geheimdienstmethoden versagen hier, weil es schwierig ist, in diese meist sehr verschworenen Gemeinschaften einzudringen.

Die Szene ist erschreckend groß: Der Verfassungsschutz zählt in Deutschland 57.300 Ausländer zur extremistischen oder terroristischen Szene. Allein in Baden-Württemberg werden 4500 Islamisten vermutet.

Mit dem Verbot des "Kalifatsstaats" von Metin Kaplan haben die Behörden nur die Spitze des Eisbergs gekappt. In den vergangenen Wochen geriet die islamische Gruppe Milli Görüs verstärkt ins Visier des Verfassungsschutzes. Dieser wirft Milli Görüs vor, in Deutschland eine Parallelstruktur aufbauen zu wollen, die auf islamischem Recht, der Scharia, basiert. Die "massiv antisemitische" Gemeinschaft kümmert sich insbesondere um junge Türken, die sie in Koranschulen ausbildet. Milli Görüs soll über jährliche Mittel von 300 Millionen Euro verfügen.

Die straffe Organisation ist laut Verfassungsschutz-Chef Helmut Rannacher ein "Durchlauferhitzer" für extremistische Muslime und eine einflussreiche Kraft im Zentralrat der Muslime. Aber mit dem Zentralrat will es sich auch die Bundesregierung nicht verscherzen, weshalb harte Maßnahmen gegen die Organisation bisher unterblieben. Das und der Umgang mit Kaplan zeigt: Deutschland hat noch kein Konzept zum Umgang mit Islamisten und radikalen Muslimenorganisationen entwickelt. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.5.2004)