Standard: Nehmen Essstörungen wie Magersucht zu?Gathmann: Ja. Essstörungen korrelieren mit der Wohlstandsgesellschaft, sie sind Zivilisationskrankheiten. Gerade die Anorexie ist eine Reaktion auf den Überfluss, die asketische Weigerung des Pubertierenden, die Abwehr gegen alles Körperliche.

STANDARD: Welche Rolle spielt dabei die Familie?
Gathmann: Eine Patientin sagte: "In dieser Familie zahlt es sich nicht aus, Frau zu sein." Magersüchtige Mädchen sind oft "verhatschte" Buben. Wenn sich der Körper in der Pubertät verändert, wehren sie sich gegen die "Zwangsverweiblichung" durch die Natur. Die Horrorfrage, die man diesen Mädchen stellen kann ist: "Möchtest du wie die Mutti werden?"

STANDARD: Wie alt war Ihre jüngste Patientin?
Gathmann: Elfeinhalb.

STANDARD: Wird Magersucht auch zunehmend eine Bubenkrankheit?
Gathmann: Durchaus. Es handelt sich jedoch um ein andere Störung, auch wenn die Verhaltensmuster ähnlich sind. Die Buben entwickeln das asketische Ideal "je weniger Körper, desto besser". Wie bei den Mädchen gibt es auch bei den Burschen "Erbrecher". Wir werden eine androgyne Gesellschaft, die Identifikation mit dem Vater ist oft nicht mehr möglich.

STANDARD: Erbrechen gehört doch zur Bulimie?
Gathmann: Mit dem Unterschied, dass Bulimikerinnen normalgewichtig sind und ihre Sucht gut verbergen. Es gibt Frauen, die vor ihren Partnern jahrelang verheimlichen können, dass sie sich dreimal am Tag übergeben.

STANDARD: Was raten Sie, wenn ein Kind Ansätze zu einer Essstörung zeigt?
Gathmann: Nicht raunzen, keinen Druck ausüben, sondern das Kind nehmen und zu einem Experten gehen.

(DER STANDARD Printausgabe 29/30.5.2004)