An diesem Wochenende werden Millionen Fernsehzuschauer in der ganzen Welt die Feierlichkeiten in der Normandie anlässlich des 60. Jahrestages der Alliierten-Invasion verfolgen können.

Der amerikanische Präsident, der britische Premier und Frankreichs Staatspräsident werden zusammen mit Staatsgästen aus dreizehn anderen Nationen, deren Soldaten die Landung mitgemacht haben, der Gefallenen gedenken. Tausende Journalisten und Veteranen haben sich zum Jubiläum angemeldet.

Noch nie zuvor fand aber die Jubiläumsfeier in solch ungewöhnlicher, ja für viele beklemmender Atmosphäre statt wie diesmal. In einer großen Titelgeschichte des Magazins "Spiegel" heißt es zu Recht, ohne die Invasion hätte es eine freie Bundesrepublik nie gegeben, und die Befreiung Europas von den Nazis wäre nie gelungen.

Lange galt der 6. Juni 1944 ebenso wie der 8. Mai 1945 für die meisten Deutschen als Symbol des katastrophalen Zusammenbruchs. Heute wird dieses Datum von der politischen Elite und von der Mehrheit der Deutschen auch, ja in erster Linie als Befreiung empfunden. Dass zum ersten Mal ein deutscher Bundeskanzler an den Feierlichkeiten teilnimmt, ist eine eindrucksvolle Bestätigung jener Worte, die der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer denkwürdigen Rede zum 40. Jahrestag gesagt hatte. Der 8. Mai sei nicht nur das Kriegsende, sondern der Tag der Befreiung der Deutschen von der Unmenschlichkeit und der Tyrannei des nationalsozialistischen Regimes gewesen.

Dass 71 Prozent der Befragten in einer "Spiegel"-Umfrage die Teilnahme Schröders für richtig halten und nur 16 Prozent dagegen sind, ist selbst für die Skeptiker ein symbolträchtiger Beweis für die Wandlung des Deutschland-Bildes.

Vor kurzem schrieb ein Europa-Korrespondent der "New York Times" über "das merkwürdige Schweigen" bezüglich Schröders Teilnahme an den Feierlichkeiten. Die große "Spiegel"-Geschichte zeigt, dass diese Feststellung voreilig war.

Niemand kann heute trotz allem die historische Bedeutung der Invasion verdrängen oder bagatellisieren. Zugleich sind aber gerade jene Freunde Amerikas, die auch die Nachkriegspolitik, vor allem die Überzeugung der deutschen Bevölkerung durch symbolische und materielle Gesten bewundern, am tiefsten durch das Versagen der Bush-Regierung schockiert. Deshalb wird diese "gigantische Show" in der Normandie leider auch ein Fest der Heuchelei. Wie kann ein US-Präsident, dessen Administration einen katastrophalen Mangel an Einfühlungsvermögen, an politischer und kultureller Kompetenz nicht nur in Irak, sondern fast in ihrer gesamten Außenpolitik an den Tag gelegt hat, bei der Jubiläumsfeier glaubwürdig wirken?

Ein Politiker, der mit solcher Anmaßung und mithilfe von falschen oder gefälschten Informationen über Waffenvernichtungswaffen sein Land in den Krieg mit dem Irak geführt hat, trug mehr als jeder andere dazu bei, die moralische Autorität der Vereinigten Staaten zu verspielen.

Amerika brauche Hilfe und nicht Prügel, schrieb kürzlich der frühere deutsche Wirtschaftsminister Otto Lambsdorff in einem bemerkenswerten Aufsatz über die Gefahren des Anti-Amerikanismus. Damals haben sich die amerikanischen Besatzer nicht für unfehlbar gehalten und ihre Irrtümer auch eingestanden.

Männer wie Henry Kissinger und Melvin Lasky, Fritz Stern und Walter Laqueur waren unter anderem die Baumeister der transatlantischen Nachkriegsordnung. Die Integrationskraft der amerikanischen Gesellschaft half Vietnam und Watergate zu überwinden und wird wohl auch das klägliche Versagen der Bush-Regierung bewältigen. Der 6. Juni 1944 bleibt also ein Symbol, aber auch eine Mahnung. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3. 6. 2004)