Quelle: Bildersammlung Marienthal, Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz

Foto: Der STANDARD
Wenn meine Mutter den Fünf-, Sechsjährigen zum Greißler schickte und gerade Freitag war, dann lagen dort auf einer Leiste vor dem Ladentisch in langer Reihe kupferfarbene Zwei-Groschen-Stücke aufgereiht. Die Bettler drückten einander die Klinke in die Hand, jeder von ihnen durfte sich eine der Münzen nehmen, meistens waren es bedrückte Elendsgestalten.

Ganz anders oft die Musikanten, die im Hof aufspielten: meist junge Burschen, die in einem bürgerlichen Bezirk wie Währing wussten, wie sie bei manchen Bewohnern in Münzen aufgewogenen Beifall fanden, wenn sie auf Gitarre und Harmonika die Nazihymne, das Horst Wessel-Lied, erklingen ließen. Wenn Hausbewohner Unmut äußerten oder der vor dem Haustor "Schmiere" Stehende vor einem Polizisten warnte, ertönte flugs der Schlager "Bei der blonden Kathrein": Eindrücke aus dem ständestaatlichen Wien . . .

Die weltweite Depression hatte Österreich anfangs der Dreißigerjahre voll erfasst. Sie bedeutete für Hunderttausende Arbeitslosigkeit. Es konnte, insbesondere nach der gewaltsamen Ausschaltung jeder Opposition, nicht ausbleiben, dass die Betroffenen, die mit ihren Familienangehörigen mindestens ein Viertel der Bevölkerung ausmachten, die Schuldigen in erster Linie bei dem ungeliebten Regime sahen, obwohl dies angesichts der Weltwirtschaftskrise und der Abhängigkeit Österreichs vom Ausland nur zum Teil berechtigt war.

Soziologie-Pioniere

Das wissenschaftlich fundierte Zeugnis für das große Elend erbrachte eine soziologische Pioniertat, die Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" von Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel (alle drei emigrierten noch vor dem "Anschluss"). Isidor Mautners Textilfabrik Marienthal (Gemeindegebiet Gramatneusiedl), die 1929 rund 1300 Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigte, fiel wenig später der Krise zum Opfer; 80 Prozent der Einwohner Marienthals wurden arbeitslos.

"Langsam aber stetig steigt der materielle Druck", heißt es im Resümee der Studie. "Die Ansprüche an das Leben werden immer weiter zurückgeschraubt; der Kreis der Dinge und Einrichtungen, an denen noch Anteil genommen wird, schränkt sich immer mehr ein; die Energie, die noch bleibt, wird auf das Aufrechterhalten des immer kleiner werdenden Lebensraumes konzentriert (. . .) Am Ende dieser Reihe stehen Verzweiflung und Verfall."

Die Arbeitslosenunterstützung in jener Zeit reichte nur, die Grundnahrungsmittel für eine Familie zu kaufen. An Erneuerung von Gewand und Schuhen war kaum zu denken, viele Kinder mussten im Winter der Schule fern bleiben, weil sie kein Schuhwerk mehr hatten. Aber selbst das Arbeitslosengeld wurde nur eine Zeit lang gewährt. Die "Ausgesteuerten" waren auf die Hilfe ihrer Gemeinde oder karitativer Organisationen angewiesen.

Die Marienthal-Studie belegt den Zusammenhang zwischen seelischem Zustand und Unterstützung; sie teilt die Betroffenen in vier Gruppen ein: "Ungebrochene" bekamen noch ein Arbeitslosengeld von 34 Schilling; die Haltung sank zu Resignation bei 30 Schilling, bei Verzweifelten weiter auf 25 Schilling, und mit 19 Schilling blieb nur noch Apathie.

Noch vor Dollfuß hatte die Regierung auf Straßenprojekte zur Bekämpfung der Not gesetzt: 1930 wurde der Bau der Glockner-Hochalpenstraße begonnen, eine technische Großleistung, bei deren Eröffnung allerdings schon Hitlers Tausend-Mark-Sperre dem Fremdenverkehr arg zugesetzt hatte. Unter Dollfuß wurde die Wiener Höhenstraße begonnen; auch ein freiwilliger Arbeitsdienst wurde eingeführt. Diese Maßnahmen konnten die Not kaum lindern, da industrielle Großinvestitionen ausblieben.

Die Sozialdemokratie musste aus der Marienthal-Studie lernen, dass aus dem durch Arbeitslosigkeit entstandenen Elend bei den Massen keineswegs revolutionäre Gesinnung entspringt, sondern eher Solidaritätsverlust und Apathie, wie es sich dann am 12. Februar 1934 erwies. (Manfred Scheuch/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5./6. 6. 2004)