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Foto: APA/Wiener Festwochen/Gisela Scheidler

Wien - Einem verwegenen Prachtjüngling wie Ibsens Peer Gynt ist es zunächst nicht zu verdenken, dass er, anstatt die Ernte einzubringen und dem Mütterlein im Talgrund zur Hand zu gehen, lieber auf dem Rücken eines Rentiers über Norwegens Schroffen dahinsprengt.

Doch die Flucht zeitigt absehbar Ernüchterndes: Ein Bergsee wirft Peer das eigene Abbild zurück. Er bleibt lediglich derjenige, der er ist. Ibsens "dramatisches Gedicht" ist eine tollkühne, fünf wüste Akte währende Ausflucht vor allen Moralvorschreibungen: Bescheide dich nicht mit dem Naheliegenden, brüllt Ibsen zur Mitte des vorletzten Jahrhunderts. (Er tut es in kindlichen, raffinierten Versen, die Botho Strauß wunderbar ins Heute transponiert.)

Peer hechelt blindlings hinterher. Man könnte seinen dichtenden Urheber Ibsen für einen innerweltlichen Befreiungstheologen halten - wenn nicht Peers Rückkehr an Norwegens Strände, nach einem vor Wahnsinn überschnappenden Abstecher an die Nil-Ufer, so erwartbar finster und treuherzig bieder wäre wie im Theater an der Wien.

Peers Altersheimstatt ist die Currywurstbude. Dort zerdrückt er mit rauen Händen die Zwiebel seines Ichs. Er findet den Kern nicht. Jetzt hätte sich der ewig treuherzig ins Publikum schwadronierende, auf viel zu kurzen Lügenbeinen tänzelnde Schmuddel-Peer Uwe Bohm eigentlich eine Bockwurst verdient gehabt. Doch Regisseur Peter Zadek hat keinen Bock: nicht auf Rentier, nicht auf Wurst - auf rein gar nichts.

Zadeks Kindertheatervorstellung, nach Ibsens Peer Gynt zwar benannt und mit Pappmaschee mürb umwickelt, ist gar nie verreist gewesen. Seine dreieinhalbstündige Gynt-Jause, vom Berliner Ensemble an den Wien-Fluss verfrachtet, um die Festwochen mit dem Nimbus der bedenklich fortgeschrittenen Altersweisheit zu verwöhnen, verweigert sich allem.

Peer flirtet mit Mutter Aase (Angela Winkler): Die gute Trümmerfrau in der Kittelschürze, die ihren Goldjungen verbuhlt anstarrt, als wolle sie seine Lügenaura mit Lustpfeilen spicken, sieht sich den hochgemuten Flegeleien eines minderbegabten Nachwuchspolitikers ausgesetzt: Typ SPD-Verordneter, Wahlkreis Blankenese.

Eine Art Sklerose

Die Bühnenschachtel steht leer bis an die Feuerwand (Bühne, so weit vorhanden: Karl Kneidl). Die Hochzeit am Fjord, die Orgie bei den Trollen: Diese mit ihrer eigenen "Armut" kokettierende Produktion hetzt Schauspieler mit Proben aus der letzten Altkleidersammlung in die rührendste Theatersklerose.

Pardauz: Ein Pappendeckelschwein quert Wasser lassend den Spielboden. Busen und Po sind die ergötzlichen Zutaten für einen falsch gemeinten Abrüstungsvorschlag. Lasst uns Bescheidenheit üben. Diese Produktion gleicht den Maßhalteappellen von Politikern: Die fetten Jahre sind vorüber. Jetzt ist nicht Mau- len angesagt. Sollen die Leute doch Kuchen essen. Das schmähliche Versiegen einer einst überschießenden Theaterfantasie verdonnert ernst zu nehmende Schauspieler zu Affengekreisch und Löwenmähnen-Schütteln. Nur wer nicht weiß, was Zadek-Produktionen in Wahrheit kosten, wird mit den versammelten Niedlichkeiten seine helle Freude haben.

Denn die ungeschminkte Wahrheit ist weitaus unangenehmer: Diese Form der onkelhaften Theaterverwahrlosung ruht in sich - wie jene altägyptische Sphinx, die Zadek aus Statisten-Leibern baut. Sie kommuniziert nicht. Sie möchte mit der schnöden Welt außerhalb der geschützten Werkprobenräume um keinen Preis behelligt werden. Sie schmeißt vor marokkanischen Meereskulissen mit Witzchen um sich wie der Nabob mit falschen Piastern. Und so kann auch aus dem Buben Peer nichts himmelhoch Entrücktes werden. Die barbusige Anitra (Anouschka Renzi) hatte den europäischen Dandy im Burnus noch mit einem Neckermann-Tänzchen verwöhnt und war hoch zu Papierross abgetreten. Hinter dem Abreißkalender der Bildchen aber sitzt die getreue Solveig (Annett Renneberg) in ihrer Kate - einem erleuchtetes Fensterchen in einem Schattenriss von Plattenbau.

Ein strenges, milchweißes Geschöpf, das an die Stelle der Mutter tritt und den sterbenden Peer goldstimmig singend ins Jenseits hinüberzärtelt. Vater Zadek aber schwieg. Etliche Buhs mischten sich in den Schlussapplaus. (Ronald Pohl/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7. 6. 2004)