In dem von Spesenmissbrauch, Vaterlandsverrat und Wasserraub geprägten Wahlkampf darf auch das Türkei-Thema nicht fehlen, obwohl das Europaparlament mit der zu Jahresende anstehenden Entscheidung nichts zu tun hat. In seltener Einmütigkeit folgen die politischen Parteien der öffentlichen Meinung und wettern gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei, wobei teils emotionale ("Türkenbelagerung"), teils simplistische ("nicht europäisch") oder auch irrelevante ("heute nicht beitrittsfähig") Argumente zum Einsatz kommen.

Dabei geht es im Dezember nicht um den Beitritt der Türkei, sondern um die Eröffnung von Verhandlungen, die viele Jahre dauern werden und deren Ausgang ungewiss ist. Selbst die türkische Regierung rechnet nicht mit einem Aufnahmebeschluss vor 2015, und bis dahin wird sich sowohl die Türkei als auch die EU beträchtlich verändert haben. Im kommenden Oktober wird die Europäische Kommission beurteilen, ob die Türkei die politischen Kriterien (demokratische Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte) erfüllt und eine entsprechende Empfehlung aussprechen.

Logischer Schritt

Sollte diese angesichts der umfassenden Reformmaßnahmen der türkischen Regierung positiv ausfallen, dürfte der Europäische Rat im Dezember den Beginn der Verhandlungen für 2005 beschließen. Dies wäre eine logische Fortführung der bisherigen europäischen Politik, welche die Selbstdefinition der Türkei als Teil Europas stets anerkannt und diese in alle europäischen Institutionen (Europarat, OECD, Nato, OSZE, EBRD etc.) als Vollmitglied und 1963 in die damalige EWG als assoziiertes Mitglied aufgenommen hat.

Gleichzeitig wurde der Türkei immer wieder bestätigt, dass sie die grundsätzliche Beitrittsfähigkeit zur EU besitzt und als Mitglied willkommen ist, sobald die politischen und wirtschaftlichen Kriterien erfüllt sind. Falls die EU ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren will, wird sie diese Zusagen einhalten. Sollte es eines Tages zum EU-Beitritt der Türkei kommen, wäre dieser Schritt mit Herausforderungen für beide Seiten, aber auch mit beträchtlichen Gewinnen verbunden.

Zunächst wäre es der Beweis, dass Europa nicht ein geschlossener christlicher Klub ist, sondern eine offene, tolerante und inklusive Gesellschaft, in der auch ein säkularer islamischer Staat seinen Platz hat. Es würde anderen islamischen Ländern vor Augen führen, dass ihre Religion mit Demokratie und einer modernen Gesellschaftsordnung durchaus vereinbar ist. Der Gewinn der Türkei für das politische, militärische und wirtschaftliche Gewicht der EU liegt auf der Hand, nicht zuletzt wegen ihrer geopolitischen Lage und der strategischen Rolle für die Sicherheit der europäischen Energieversorgung aus dem Mittleren Osten, Zentralasien und dem kaspischen Raum.

Unter den Problemen stehen wohl die kulturellen Unterschiede an erster Stelle - das Wort Religion wird schamhaft vermieden -, die meist im Lichte von Integrationsschwierigkeiten türkischer Einwanderer aus den siebziger Jahren gesehen werden und mit der Angst vor einer künftigen Migrationswelle verbunden sind. Wie bei früheren Erweiterungsrunden dürfte es auch im Falle der Türkei zu einer viel geringer als erwarteten Einwanderung kommen, die im übrigen erst nach Ablauf längerer Übergangsregelungen etwa 2025 einsetzen würde.

Kosten unklar

Zu diesem Zeitpunkt wird in Europa aufgrund des Geburtenrückgangs ein dringender Bedarf an Arbeitskräften bestehen und die geschätzten 2,7 Millionen meist höher qualifizierte Einwanderer aus der Türkei wären leicht absorbierbar. Welche finanzielle Kosten ein Beitritt der Türkei verursachen würde, ist schwer vorauszusagen, hängen diese doch einerseits von der künftigen Wirtschaftsentwicklung in der Türkei, andererseits aber von den zum gegebenen Zeitpunkt in Kraft befindlichen Finanzpolitiken der EU ab.

Diese werden kaum dieselben sein wie heute, sodass man nur davon ausgehen kann, dass ein beträchtlicher Finanzbedarf zu erwarten ist, darüber hinausgehende konkrete Prognosen jedoch bloße Spekulationen sind. Im übrigen wird das EU-Budget weiterhin eine Deckelung haben - Österreich und andere Beitragsstaaten haben eine Höhe von ein Prozent des BIP der EU gefordert -, sodass schon aus diesem Grund von einem "Explodieren" des Budgets nicht die Rede sein kann.

Für das Funktionieren der europäischen Institutionen wären - etwa im Vergleich zur kürzlichen Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern - nur geringe Auswirkungen zu erwarten, da das Bevölkerungsgewicht im Entscheidungsprozess der EU auch in Hinkunft nur teilweise eine Rolle spielen wird. Ebenso würde die Türkei, die bereits mit der ersten Erweiterungsrunde - Großbritannien, Irland, Dänemark - eingetretenen tiefen Meinungsunterschiede über die Zukunft der Union qualitativ nicht wesentlich beeinflussen, selbst wenn die Heterogenität der Union mit jeder Neuaufnahme weiter verstärkt wird.

Es wäre gut, wenn nach der Aufgeregtheit des Wahlkampfes dieses sicherlich nicht leichte Thema auch in Österreich jenseits von Klischees und Vorurteilen diskutiert werden könnte. Hierbei sollte man bei aller gebotenen Vorsicht nicht nur die Probleme, sondern auch die Chancen einer türkischen EU-Mitgliedschaft wahrnehmen. (DER STANDARD, Printausgabe, 8.6.2004)