STANDARD: "Solness" ist ein Spätwerk Ibsens, eine Art Bilanz.
Ostermeier: Man kann das Stück, so wird es auch oft interpretiert, als eine Parabel lesen auf Ibsens eigene Situation. Solness hat sich losgesagt von Gott - und vom Bau himmelstrebender Bauten. Dem entspricht Ibsens Lossagung vom Ideendrama. Er hat ja mit Dramen über römische Geschichte und die norwegische Befreiungsbewegung angefangen - und dann, wie Solness "Menschenhäuser" statt Kirchen baut, mit kleinen, psychologischen, kammerspielartigen Familiendramen Erfolg gehabt. Und wie Solness am Ende seines Lebens noch einmal ein Haus mit einem hohen Turm baut, aber keine Kirche, versucht Ibsen in dem Stück, psychologisches Drama und Ideendrama zusammenzubinden. Eigentlich ist das ganze Stück ein Ideendrama. Es ist relativ handlungsarm. Das war auch die Herausforderung bei dieser Inszenierung.
STANDARD: Inwiefern?
Ostermeier: Im Gegensatz zum Krimiplot bei Nora heißt es in Solness die ganze Zeit: "Setzen Sie sich mal, und dann erzähle ich Ihnen was." Und dann setzen sie sich, und dann erzählt Solness was. Akt für Akt. Und einmal erzählt Aline was, seine Frau. Es gibt also in fast allen Szenen zwei Figuren, und eine erzählt der anderen etwas. Sehr undramatisch. Das geht nur mit solchen Raumverdrängern wie Gert Voss und Kirsten Dene. Wenn Voss sich auf eine Bank setzt und sein Leben erzählt, hört man länger zu, als wenn es ein junger Schauspieler tut. Eine Persönlichkeit wie Voss hat eine andere Verdrängung und kann ein solches handlungsarmes Stück besser tragen.
STANDARD: "Solness" ist die erste Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Gert Voss. Sie arbeiten normalerweise fast ausschließlich mit den jungen Schauspielern der Schaubühne, er mit älteren Regisseuren. Also im Unterschied zum Stückthema Annäherung der Generationen statt Verdrängung?
Ostermeier: Es ist weniger eine Frage der Generationen als eine Begegnung mit den Persönlichkeiten Gert Voss und Kirsten Dene. Die Arbeit besticht dadurch, dass Gert jeden Morgen auf die Probe kommt und sich etwas Neues überlegt hat. Und jeden Tag ändern will. Voss ist jemand, der nichts mehr hasst als Menschen, die sich zufrieden geben. Er stellt immer wieder alles grundsätzlich infrage. Vor zwei Tagen habe ich ein Gespräch mit ihm geführt in der Garderobe. Und am nächsten Tag hat er den Solness komplett anders gespielt. Er ist ähnlich verbissen in die Arbeit wie ich. Für ihn gibt es auch nur die Probe und danach ausruhen. Und bei mir eigentlich auch.
STANDARD: Sie erarbeiten in Ihren Inszenierungen Figuren stark über deren körperlichen Ausdruck. Gert Voss gelingt es bei seinen Figuren, hier stets eine geradezu flirrende Ambivalenz zu erhalten. Keiner seiner Charaktere ist von platter Eindeutigkeit.
Ostermeier: Gert ist faszinierend schnell in den Impulsen. Mit blitzartigen Brüchen und Modulationen. In einer Minute wechseln einander dreiundachtzig Haltungen ab. Die dann auch noch souverän und virtuos gesetzt werden.
STANDARD: "Solness" ist nicht zuletzt auch das Drama eines monomanischen Künstlers, der sein Leben der Kunst opfert.
Ostermeier: Das ist die Parabel: Das alte Haus, das Haus seiner Frau Aline, in das er als junger Mann eingezogen ist, brennt ab. In dem Brand kommen seine beiden Kinder um. Und er kann nach dem Brand das Grundstück parzellieren, Einfamilienhäuser darauf bauen, und kommt so zu Ruhm und Reichtum. Dadurch, dass er dem häuslichen Glück entsagen musste, auf der Asche seiner Kinder, konnte er ein wahrer Künstler werden. Man muss sich der Kunst ganz verschreiben. Nur dann schafft man das. Sagt Henrik Ibsen.
STANDARD: Und Thomas Ostermeier. Vor wenigen Minuten, über Gert Voss und sich selbst.
Ostermeier: Weshalb Voss und ich auch absolut auf der Seite von Solness sind. Im Grunde genommen hat Ibsen Recht. Es ist ein totaler Verzicht. Aber mich macht es zum Glück glücklich. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9./10. 6. 2004)