Allegra und Sophie haben am Sonntag Geburtstag: 14 und 18 werden sie. Damit behält Allegra das Recht auf Unvernunft und Sophie erlangt die Pflicht zur Vernunft: die Europawahlunterlagen sind bereits eingetroffen, Autofahren darf sie und – auch offiziell – alles allein entscheiden. Zu spät finden viele: Denn die Kindheit hat sich dank des modernen Lebensstils massiv verkürzt – in 100 Jahren ist die Altersspanne, die man der Kindheit zuordnet, von 16 auf heute neun Jahre gesunken. "Kinder an die Macht!" fordert nicht nur Grönemeyer: Schon 16- oder gar 14-Jährige sollten mehr Freiheit, (Wahl-)Rechte und auch Verantwortung bekommen. Zu ganz anderen Schlüssen kommen brandneue Studien der Hirnforscher Witelson und Giedd: So frühreif Teenager wirken, so spätreif sind sie im biologischen Sinne, was Vernunft und die Fähigkeit zur Voraussicht angeht. "Das Teenager-Gehirn ist eine Baustelle" – und zwar bis zum 25. Lebensjahr.

Spätes Reifen

Es sind also nicht nur die Hormone, sondern das späte Reifen der für das Denken und Lenken verantwortlichen Vorderhirnrinde, die die typischen Teenager-Widersprüche erklären: Freiheitsdrang und Geborgenheitswunsch; Regelbruch; Akzeptanzsuche; der Hang zum Risiko – speziell im "Rudel"; die Bevorzugung von Aufregung statt Anstrengung. Aus diesen Einsichten lässt sich lernen – wovon nicht nur Kinder, sondern auch die von sozialer Kompetenz und Innovationskraft abhängige Dienstleistungsgesellschaft profitieren:

  • Die Neugierde erhalten: Wie die psychologische Forschung bestätigt, ist Neugier der Schlüssel zur Motivation. Was im Unternehmen später oft mühsam mit Kreativitätstechniken ausgegraben werden muss – die Lust am Neuen, am Ausprobieren und Experimentieren – ist Kindern angeboren und wird schon in frühen Jahren, wie Kinderforscher Largo feststellt, "systematisch abgewürgt". Sie werden in Lernsysteme gezwängt und immer wieder unter- oder überfordert. Der Motor Neugierde bleibt nur am Laufen, wenn sich das Kind im individuellen Dialog an Fortschritten freuen und aus Fehlern lernen kann.
  • Kreativität als Kraft mobilisieren: Anstatt junge Menschen immer früher, beispielsweise durch Senkung des Wahlalters, in Verantwortung einzubinden, sollten wir viel stärker ihre kreative Kraft für die Innovationsprozesse mobilisieren. Unternehmen wie Nike oder NTT DoCoMo machen es vor: Sie binden Teenager in Entwicklungsprozesse, Produkte und Leistungen ein. Im Bildungssektor zeigen Erfahrungen mit neuen Lernformen, dass Freiraum für eigene Ideen und Verantwortung für das Ergebnis die Lust auf Leistung erheblich fördern.
  • Mehr Raum zum Kindischsein schaffen: Kinder brauchen "Kindheit" als Zeit und Raum zum Kindischsein. Was für Erwachsene "Arbeit", ist für sie Spielen: die Möglichkeit, sich die eigenen Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit der Welt anzueignen. Das erfordert Vielfalt und Geduld mit der Ungeduld – was die heutigen Familien und vor allem die Mütter überfordert, an die die Sicherstellung des "Schutzraumes" delegiert wird. Ein einseitiger Karriereverzicht wird erwartet und ist – menschlich und gesellschaftlich – höchst problematisch. Vielleicht führt der Weg vorwärts einen Schritt zurück: Immer häufiger sind es (wieder) Großeltern, die Kindern (und Eltern) den Raum zum Kindischsein geben, die Zeit haben zum Vorlesen und Spielen.

    Dauerwurst

    Die Kindheit prägt uns, nicht nur neurobiologisch, für das ganze Leben – auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, wie Erich Kästner wusste: "Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr."

    Schade, denn was wir an Neugier, Lebenslust und rebellischem Geist bewahren, gehört zum Wertvollsten, was wir haben.