In dem aufgrund seines niedrigen Niveaus beklagten Wahlkampf blieb diese Frage unbeantwortet. Als Schlammschlacht bildet er jedoch die Realität der EU ab, die von nationalen und ökonomischen Interessen bestimmt wird.

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Zwiespältiger kann der Eindruck kaum sein: Während am 12. Juni Millionen Europäer gebannt vor den Fernsehern sitzen werden, um das Eröffnungsspiel der Euro 2004 zu verfolgen, wird tags darauf gähnende Leere in den europäischen Wahlzellen herrschen. So spannend eine Europameisterschaft sein kann, so langweilig scheint Europa ohne Meisterschaft zu sein.

Dieser prekäre Zusammenhang zwischen Fußball und Wahlen ist allerdings kein zufälliger. Europameisterschaften sind spannend, weil dort und vielleicht nur noch dort die Nationen als Nationen agieren dürfen, und die Wahlen zum Europäischen Parlament sind langweilig, weil alle gebetsmühlenartig beteuern, dass es dabei um ein imaginäres "Europa" und nicht um das Wohl und Wehe seiner Nationen gehen muss.

Nationale Peinlichkeit

Aus dieser Schieflage resultierte dann auch ein Wahlkampf, der in seiner Tristesse nur noch durch die Penetranz seiner Kritiker unterboten wurde. Wer die letzten Wochen der Europa-Diskussionen verfolgte, musste zu einem paradoxen Befund kommen: Dieselben Parteien, die einander mit der Plakatierung nationaler Peinlichkeiten überboten – einschließlich der Grünen, deren Karikaturen so taten, als könnten Grasser, Haider und Co. in Brüssel schalten und walten, wie sie wollten –, beklagten unisono das niedrige Niveau dieses Wahlkampfes, in dem "Europa" mit Ausnahme seiner Spesenritter nicht vorkam.

Und nahezu einstimmig fielen die Medien in diese Klage ein, und alles machte sich auf die Suche nach einem Wahlkampfthema namens "Europa". Nur: Bis heute war dies nicht zu finden. Und das hat gute Gründe. Kein Mensch wüsste zu sagen, was genuin "europäische" Themen wären, für deren Behandlung die Wahlen zum Europaparlament irgendeine Bedeutung hätten.

Ja und Amen

Das hat zum einen mit der Verfasstheit der Europäischen Union zu tun, die aus eine Kette von Verträgen zwischen Nationalstaaten besteht. Diese bestimmen über die Kommission und deren Vorsitzenden, und sie entscheiden letztlich über das dichte Brüsseler Regelwerk. Das Europäische Parlament sagt dazu Ja und Amen und hat es bislang tunlichst vermieden, auch nur in einer entscheidenden Frage – Personalfragen, Transit, Atomenergie, Wettbewerbsordnungen oder die leidigen Österreich- Sanktionen – eine eigenständige und prononcierte Position zu beziehen.

Bis die Kompetenzen des Parlaments so erweitert sind, dass es tatsächlich als europäische Legislative empfunden werden kann, wird noch viel Zeit vergehen, ihre eigentliche demokratische Legitimation gewinnt die EU auch weiterhin durch die Legitimität ihrer nationalen Regierungen. Das gilt auch für die viel zitierte Verfassung, die eben keine Verfassung, sondern ein Verfassungsvertrag sein wird, der eher bestehende Regelungen – wenn auch in etwas transparenterer Form – fortschreibt, als dass er tatsächlich als Grundlage für die Vision "Vereinigter Staaten von Europa" dienen könnte.

Verfassung kein Thema

Trotzdem: Stünde diese Verfassung zur Abstimmung, wäre der Wahlkampf sicher etwas lustiger – allein über die Wertepräambel ließe sich angeregt diskutieren. Und dennoch: Nicht einmal der Verfassungsvertrag ist ein "Europa- Thema", sondern er bündelt lediglich die Frage, in welchen Rechtsformen die europäischen Nationen ihre Interessen ausgleichen wollen. Den Verfassungsvertragsentwurf nationalen Plebisziten auszusetzen erscheint aus dieser Perspektive durchaus plausibel, wenn auch nicht zwingend notwendig.

Ob die Ablehnung dieses Vertragswerks durch eine Regierung oder Nation deren Austritt aus der EU zur Folge haben sollte, erscheint wiederum nur dann sinnvoll, wenn der Verfassungsvertrag als einzige Rechtsgrundlage für die Zugehörigkeit zur EU im Prinzip von allen anerkannt wird. Mit der in diesem Zusammenhang eröffneten Perspektive von Austrittsmöglichkeiten kommt übrigens eine interessante Dynamik in die EU, die damit vielleicht sogar ein Stück ihres wahren Charakters offen legt:

Da es offenbar keine geografisch, politisch oder kul^turell wirklich zwingenden Gründe gibt, warum Staaten nicht Mitglieder der EU sein sollen, öffnet sich die Perspektive eines dynamischen Verbandes von Nationen, die je nach ihrer Interessenlage ihr Verhältnis zur EU definieren: England raus, Türkei rein, Norwegen kommt irgendwann, Polen geht vielleicht wieder, Schweiz bleibt draußen.

Abgefedert werden solche harten Ein- und Austrittsszenarios ja ohnehin durch die Möglichkeit, Mitglied der EU zu sein, ohne an den großen europäischen Projekten – Schengen und Euro – teilzunehmen, wie es umgekehrt bald Schengen- und Euro-Länder geben wird, die nicht Mitglied der EU sind. Eine solche Gemengelage einander überschneidender Zugehörigkeiten entschärft auf der einen Seite alle Beitrittsdebatten – natürlich wäre ein Mitglied Türkei denkbar, das mittelfristig weder am europäischen Arbeits- und Agrarmarkt noch an Schengen und am Euro im Vollsinn teilhätte –, andererseits verhindert diese Situation, dass so etwas wie das viel beschworene europäische Bewusstsein oder die europäische Identität überhaupt entstehen kann.

Flexible Grenzen

Die von manchen Wahlwerbern gerne zitierte "europäische Seele" wird man noch lange suchen müssen. Die immer wieder geforderte Diskussion über Europas Grenzen ist unter diesen Bedingungen höchst irreal, weil jede Außengrenze Europas jederzeit realpolitisch zur Disposition gestellt werden kann. Noch ist Europa kein Altar, auf dem irgendjemand irgendetwas zu opfern hätte.

Erst ein Europa, dass sich nicht als Freihandelszone mit Subventionsmechanik und Regelungswut unter amerikanischer Observanz, sondern als politische Einheit definierte, müsste über seine Grenzen im Osten, Süden und auch im Westen Bescheid wissen, die nicht nach moralischen Wunschvorstellungen, sondern in letzter Instanz nach machtpolitischen Erwägungen zu ziehen wären.

Dann müsste aber auch klar gesagt werden, wer diesseits und wer jenseits dieser Grenze lebt. Da aber niemand dies sagen und schon gar nicht darüber abstimmen lassen will, ist "Europa" als Thema der Europawahl tatsächlich inexistent. Europa im emphatischen Sinn bleibt weiterhin ein Begriff für Sonntagsreden, in der Wirklichkeit ist damit nicht mehr, aber auch nicht weniger gemeint als eine relativ zivilisierte Form, nationale und ökonomische, kaum übrigens ökologische und soziale Interessen durchzusetzen oder auszugleichen.

Die Wahlen zum europäischen Parlament tragen zu dieser Realität oder ihrer Veränderung wenig bei, und die Wähler in Europa haben dafür ein ziemliches Gespür. Europawahlkämpfe können so nur ein Spiegel dafür sein, wie ein Land seine Interessen in der EU zu artikulieren und zu vertreten gedenkt.

Die Schlammschlachten, die den österreichischen Wahlkampf prägten, stellen ein getreues Spiegelbild dessen dar, was man sich hierzulande unter nationalem Interesse im europäischen Kontext vorstellt. In diesem Sinn war dieser Wahlkampf nicht unter jedem, sondern genau auf dem angemessenen Niveau. Alles andere wäre Hybris gewesen. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.6.2004)