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Magersucht: alles dreht sich nur noch um das eigene Gewicht. So dünn kann frau gar nicht sein, dass sie sich nicht zu dick fühlt.
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Die historische Genese von Ess-Störungen im allgemeinen und der Magersucht im besonderen geht einerseits mit einer Veränderung des Ideals eines sexuell attraktiven weiblichen Körpers und zum anderen mit den gewandelten und verstärkten Anforderungen an die sozialen Rollen von Frauen in den letzten 150 Jahren einher. Faktoren, die einander gegenseitig stützen. Denn Ess-Störungen zählen nach wie vor zu den typisch weiblichen psychischen Krankheitsbildern: 90 Prozent der Erkrankten sind Mädchen und Frauen, wenn auch die Zahlen der männlichen Kranken im Ansteigen begriffen sind. Faktum ist auch, dass das normative Körpergewicht von Frauen weit unter jenem von Männern fest geschrieben wurde und ein schlanker Frauenkörper gesellschaftlich höher bewertet wird als ein männlicher.

Differenzierung: Religiöses Fasten und Magersucht

Magersucht ist deutlich abzugrenzen von allen früheren (und aktuellen) Formen extremen vorübergehenden Fastens und auch von der Bulimie, die übrigens erst hundert Jahre nach der Magersucht publiziert wurde. Obwohl in vorindustrialisierten und sogenannten unzivilisierten Gesellschaften ein beträchtlicher Körperumfang noch Wohlstand bedeutet/e, hat es immer Zeiten gegeben, in denen irdische Genüsse dem Ideal des Geistig-Ätherisch-Puren gegenüber gestellt wurden. Bei den frühen Formen radikalen Fastens, die durchwegs religiös motiviert waren, ging es um eine Annäherung an "Reinigung", "Läuterung" und "Erleuchtung, dabei spielte jedoch das Körpergewicht bezüglich der Furcht zuzunehmen keine Rolle. Lediglich das Streben nach Perfektion (Durchhalten) ist mit der Magersucht vergleichbar.

So ist aus dem Spätmittelalter der religiös motivierte Typus der asketisch-mystischen Fasterin überliefert, welche die Leiden Christi durch Hungerpein nachahmt. Und auch zwischen dem 16. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde von "profanen Fastenwundern" berichtet, die ebenfalls religiös-asketisch motiviert waren und mit besonderer Gläubigkeit und Moral gleichgesetzt wurden. Diese Frauen aßen tatsächlich wochenlang nichts, was sie stolz erzählten. Magersüchtige indes geben vor, mehr zu essen als der Fall ist, um von der Umwelt in Ruhe gelassen zu werden. Sie hungern heimlich.

Entdeckung der Magersucht im 19. Jahrhundert

Die Magersucht tritt, wenn auch anfänglich nicht als solche erkannt, erstmals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung und verbreitet sich zwischen den 20er und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts zusehends. Anfänglich wurden ihre Symptome rein physisch gedeutet und zumeist in Folge von anderen Erkrankungen des Körpers, beispielsweise Tuberkulose oder Gastritis gesehen oder einfach als Appetitlosigkeit ohne ersichtlichen Grund diagnostiziert. Genauso neigte man dazu, "hysterisches Erbrechen" nicht mit einer Angst vor dem Dicksein in Verbindung zu bringen. Alle Gründe, welche die Magersüchtigen vorschoben, wurden von den ÄrztInnen nicht weiter hinterfragt und in der Folge Appetitverlust für das zentrale Element der Magersucht gehalten. Eine Definition, die sich als absolut falsch herausstellte.

Erst 1873 hat der Pariser Arzt Charles Lasègue die Magersucht als einheitliches Krankheitsbild mit folgenden Kriterien aufgefasst:

  • Hungern trotz teilweise lebensbedrohlichen Untergewichts und großen Appetits
  • Krankheitsverleugnung der Erkrankten: sie seien gesund und fühlen sich gut
  • Überaktivität, welche bei anderen Formen extremen Fastens, bei der die Menschen im Bett liegen, nicht auftritt

    Etwa zehn Jahre später wies Jean Martin Charcot auf die "fixe Idee des Übergewichts" hin, die er als krankheitsorganisierende Kognition der Magersucht auslegte. Und auch in Österreich definierte der Grazer Arzt Stichl 1892 als erster deutschsprachiger Autor absichtliches Abnehmen als panische Furcht vor dem Dickwerden. Diese ersten Belege über die Magersucht als ernsthafte Krankheit wurden jedoch in den folgenden Jahrzehnten von Medizin und Psychiatrie an den Rand gedrängt und erst wieder in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts zur wissenschaftlichen Arbeit - nun vor allem von PsychoanalytikerInnen - heran gezogen. Publiziert wurden diese Untersuchungen jedoch zum Großteil nur in Frankreich, England und Italien, was in Verbindung mit der NS-Zeit in Österreich und Deutschland zu sehen ist. Denn in den 30er-Jahren ist die Psychoanalyse als "jüdische Wissenschaft" - und mit ihr ihre VertreterInnen - vertrieben worden. In der Nazi-Ideologie hätte die Magersucht auch gar nicht existieren dürfen, zu groß wäre die Gefahr der Zersetzung der geforderten "Lebenstüchtigkeit" und der Gebärkraft und zukünfigen Wehrkraft des "Volkes" gewesen (Habermas, S. 145).

    Verbreitung der Ess-Störungen im 20. Jahrhundert

    Erst nach 1945 kommt es zu einer Flut von Veröffentlichungen über Magersucht, wobei auffällt, dass in der Analyse von unzählichen Fallbeschreibungen von der Auffassung einer endokrinen Störung zugunsten einer psychischen übergegangen wird. Seit den 70er-Jahren hat die Beschäftigung mit Ess-Störungen - allen voran Magersucht und Bulimie - zugenommen, sowohl wissenschaftlich und therapeutisch als auch durch die massenmediale Verbreitung speziell in Mädchen- und Frauenzeitschriften. Dies wirft die Frage auf, inwieweit der breite Diskurs über Ess-Störungen neben seinem positiven Effekt der Aufklärung die Verbreitung derselben voran treibt. Denn zum einen konnte beobachtet werden, dass beispielsweise die Einführung von westlichen TV-Sendern (mit entsprechend schlanken Frauenfiguren) in asiatischen Ländern erst zu essgestörtem Verhalten von Mädchen und Frauen geführt hat und zum anderen in westlichen Ländern die Bulimie als Nachfolgerin der Magersucht (sozusagen mit Modellcharakter) erst in den 80er-Jahren entdeckt worden ist.

    Unerfüllbare Frauenideologie

    Faktum ist, dass zwei maßgebliche Zäsuren in der jüngeren Geschichte die Entstehung von Ess-Störungen (neben anderen Faktoren) begünstigt haben. Denn sowohl ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als auch hundert Jahre später erlebte das idealisierte Frauenbild extreme Brüche, die hier nur in äußerster Kürze gestreift werden können. Im 19. Jahrhundert war die bürgerliche Frau ganz auf den engen Innenraum von Ehe und Familie beschränkt, so gut wie rechtlos und auf wenige Ausnahmen von einer Berufsausübung fern gehalten, was eine Reihe von psychischen Erkrankungen wie etwa die Hysterie nach sich zog. Gleichzeitg prangerte die Erste Frauenbewegung erfolgreich dieses rechtlose Eingesperrtsein als unmenschlich an. So geriet auch das bürgerliche Frauenideal ins Wanken.

    Mit der Mobilisierung der Zweiten Frauenbewegung ab den späten 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts konnten sich Frauen zwar einige Rechte erkämpfen, gleichzeitig blieben die gesellschaftlichen Strukturen im Prinzip die gleichen. Frauen durften jetzt zwar nicht alles, aber sie mussten mehrere Rollen à la "Superfrau" mit links ausführen, was nur zu Überforderung und Konflikten mit sich selbst führen musste.

    Dünn und dünner

    Bei beiden Zäsuren ist überdies zu beobachten, dass sich das erwünschte äußere Erscheinungsbild einer als attraktiv geltenden Frau immens verändert hat. Brachte die Reformkleidung der Jahrhundertwende zuerst Aufatmen durch die Befreiung vom Korsett, folgte sehr bald das Ideal einer schlanken Linie, welches sich ohne Mieder nicht so leicht herstellen ließ. Ab den 20er-Jahren ist dann der androgyne Frauentyp ohne Busen und Po gefragt.

    Der Zweite Weltkrieg unterbricht Körperideale kurzzeitig, aber in den späten 40er-Jahren sind die genormten Ideal-Frauenköper wieder da - mit 90-60-90 - bis auch diese in den 60er-Jahren mit dem berühmten Magermodel Twiggy einer noch dünneren Form Platz machen. Maßband, Waage, Diäten aller Art und Kalorienzählen gehören bald zum Alltag einer ganz nomalen Frau. Aber einige hören nicht mehr damit auf. Hungern, fressen und kotzen. Und einige sterben daran. (Dagmar Buchta)