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Von der Weltöffentlichkeit nicht ganz so brennend verfolgt wie Fußball, treffen sich dieser Tage 192 Länder im Rahmen der ‑ 11. Konferenz der UNCTAD

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Von der Weltöffentlichkeit nicht ganz so brennend verfolgt wie Fußball, treffen sich dieser Tage 192 Länder im Rahmen der‑ 11. Konferenz der UNCTAD, der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung. Der Zusatz "und Entwicklung" ist nicht nur das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zum Fußball, sondern auch zur Welthandels-‑ organisation WTO: Die‑ UNCTAD gilt als Forum des Südens, die WTO als Rammbock des Nordens, Erstere verfolgt einen umfassenden Entwicklungsansatz, Letztere schwört auf Freihandel pur.

Ein Blick in die Geschichte: Schon nach dem Zweiten Weltkrieg sollte im Rahmen der UNO eine eigenständige Organisation zur Regelung des globalen Handels geschaffen werden. Die fertig entworfene International Trade Organisation ITO hätte klassische UN- Ziele wie Entwicklung und Menschenrechte verfolgen und sogar Rohstoffpreise festlegen dürfen. Gründe genug für ein Veto der USA: aus der ITO wurde nichts.

Erst 1964 entstand auf Drängen der armen Länder ein Teilersatz: Die UNCTAD wurde eingerichtet, um den Süden besser gegen den übermächtigen Norden auf dem globalen Politikparkett zu positionieren. Aber der Norden schlief nicht. Getrieben von Konzern- interessen setzten vor allem die USA und die EU die Gründung einer Handelsorganisation außerhalb der UNO durch, die sich ausschließlich dem Ziel des Freihandels widmet. Die Welthandelsorganisation WTO macht seit 1995, was in modernen Verfassungen verboten ist: Ungleiche gleich zu behandeln.

Undifferenzierter Freihandel gilt im ökonomischen Mainstream immer noch als Patentrezept aus der Armutsfalle. Aufmerksame Standard- Leser erinnern sich an die Formel von Guy Verhofstadt in seinem Brief an die "Globalisierungsgegner": "Jedes Prozent Marktöffnung erhöht das Pro-Kopf-Einkommen um ein Prozent." Nähme ein Land die Milchbubenrechnung ernst, bräuchte es bloß seine Handelstüren aufreißen und auf das Ende der Armut warten.

Genau diesen Aberglauben hat die UNCTAD anlässlich ihrer 11. Konferenz – und ihres 40. Geburtstages – mit einer umfassenden Studie zerstäubt. Die wichtigsten Ergebnisse: Der "Öffnungsgrad" der 50 ärmsten Länder ist im Schnitt höher als jener der 30 Industrieländer. Die Ärmsten sind stärker globalisiert als die Reichsten. Geholfen hat ihnen das nicht, im Gegenteil.

Deindustrialisierung

Zweitens: Marktöffnung bewirkt zwar steigende Exporte, noch schneller wachsen aber die Importe. Logisch: Die Ärmsten haben vielleicht ein, zwei Produkte, mit denen sie am Weltmarkt punkten können, dafür kommen durch die Wegfall der Schutzzölle Dutzende andere herein, gegen die sie keine Chance haben. Die Handelsbilanzen der Ärmsten drehten durch Liberalisierung ins Defizit. Die UNCTAD spricht von "kollabierenden Industrien" und "Deindustrialisierung".

Drittens nützen die Ausfuhren oft nur einer kleinen Elite. Die breite Bevölkerung schaut durch die Finger, verarmt‑ bei steigenden Exportraten. UNCTAD-Fazit: Handelsliberalisierung ist keine brauchbare Entwicklungsstrategie. Erst muss es dem Land gut gehen, dann kann der internationale Austausch beginnen. Zuvor braucht es höhere Entwicklungshilfe, Entschuldung, patentfreien Know-how-Transfer und viel Spielraum beim Aufbau lokaler Märkte.

All diese Forderungen, zum Teil schwere Markteingriffe, spießen sich schmerzlich mit den Rezepten von IWF, Weltbank und WTO, die im Interesse der Industrieländer agieren. Sie betrachten die‑ UNCTAD als lästige Konkurrenz und sähen sie lieber‑ auf dem Abstellgleis. Umgekehrt haben Entwicklungsländer Freihandel, Strukturanpassungsprogramme und Verarmung satt und wollen "ihre"‑ UNCTAD in S˜ao Paulo gestärkt wissen. Der Zeitpunkt wäre günstig: Die WTO hat zwei ihrer drei letzten Ministerkonferenzen verpatzt. In Cancún, bei der 5. Konferenz, führte der logische Interessensgegensatz zwischen Nord und Süd zum Bruch. John Maynard Keynes sagte bereits in den 20er-Jahren voraus, dass Freihandelszonen zwischen ungleichen Partnern nur Bestand haben, wenn von den Gewinnern zu Verlierern umverteilt wird.

In der EU ist das derzeit der Fall, wenn auch nur in Maßen. In der WTO sind sehr viel ungleichere Partner in einem Boot, und es gibt gar keine Umverteilung. Folgerichtig denkt die Organisation Afrikanischer Staaten seit Cancún laut über einen Austritt aus dem globalen Freihandelsver 4. Spalte ein nach. In S˜ao Paulo verfolgen selbstbewusste Entwicklungsländer die Idee eines verstärkten Süd-Süd-Handels, die Fantasien reichen noch weiter, vom Rohstoff- und Schuldnerkartell bis hin zur Neuauflage der Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung, die in den 70er-Jahren eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Reich und Arm zum Ziel hatte.

WTO-Ablöse

Für den Fortgang der Globalisierung wäre es jedenfalls ein Glück, wenn die UNCTAD die WTO ablösen und zu einer vollwertigen UN-Organisation aufsteigen würde. Sie könnte Menschheitsziele wie Armutslinderung, nachhaltige Entwicklung, Verwirklichung der Menschenrechte und kulturelle Vielfalt in einem integrierten Ansatz verfolgen und globalen Handel und Investitionen nur als Instrumente zur Erreichung dieser übergeordneten Ziele nützen – anstatt sie zum Selbstzweck zu überhöhen wie die WTO.

Die Alternativen liegen in S˜ao Paulo auf dem Tisch, die Blockierer sitzen diesmal in Nordamerika und Europa. Sie haben die Wahl: Noch mehr Freihandel und Terror – oder Entwicklung und Frieden. (Der Standard, Printausgabe, 18.06.2004)