Die 9/11-Kommission hat eine Fülle von neuen, ganz erstaunlichen Erkenntnissen zu den Attentaten am 11. September 2001 vorgelegt. Die Schlagzeilen macht aber eine Feststellung des Ausschusses, die eine andere negiert, die es offiziell eigentlich gar nicht gibt: Saddam Hussein, so steht im Bericht, hatte nichts mit den Anschlägen von Al-Kaida gegen die USA zu tun.

Tatsächlich wird man lange suchen, bis man Zitate aus dem Munde von relevanten US-Offiziellen findet, in denen eindeutig behauptet wird, dass der Irak des im April 2003 gestürzten irakischen Diktators an 9/11 direkt und aktiv beteiligt war. Trotzdem wurde dies zu einem weit verbreiteten Teil des populären US-amerikanischen Narrativs (Erzählweise) zu den Anschlägen, die Amerika im Herbst 2001 zu einem völlig anderen Land machten. Eine Umfrage vom April 2004 der Universität Maryland sagt, dass 57 Prozent der Amerikaner glauben, dass der Irak bei der Vorbereitung und/oder der Ausführung von 9/11 beteiligt war. Vor dem Krieg glaubten über vierzig Prozent, dass mehrere bis alle Attentäter aus dem Irak kamen.

Die Identität der Attentäter ist längst geklärt, und dass ein irakischer Hintergrund nicht zu finden sei, sagte die CIA in einer sehr frühen Phase der Untersuchungen. Die mangelnde CIA-Bereitschaft, die Irak-Kriegsfraktion mit Material zu beliefern, führte zur Einrichtung einer eigenen Pentagon-Geheimdienstgruppe unter der Leitung von Staatssekretär Douglas Feith, die fortan "Theorien" entwickelte, wie eine Zusammenarbeit zwischen Saddam Hussein und Al-Kaida ausgeschaut haben könnte.

Diese Theorien wurden auf manipulativ meisterhafte Art unters Volk gebracht, das kriegsbereit gemacht werden musste. Präsident und Vizepräsident halfen durch teils nebulöse, teils schon recht handfeste Andeutungen mit, an deren Gehalt sie bis heute aus guten politischen Gründen nicht abrücken. Was auch geschieht: Die Illusion muss aufrechterhalten werden, dass alles, was im Irak geschieht, in den Kontext des Antiterrorkampfes gehört. Solange das gelingt, werden die Amerikaner - und vielleicht auch die US-Wähler - ihrer Regierung alles verzeihen.

Die New York Times war sich nun am Donnerstag in ihrem Leitartikel nicht schlüssig, welcher Fraktion - den Manipulatoren oder den Manipulierten - sie George Bush zurechnen sollte: Es gebe zwei Möglichkeiten - entweder Bush "wusste, dass er nicht die Wahrheit sagte", oder er habe "die Fähigkeit zu einer politisch motivierten Selbsttäuschung", die in einer Post- 9/11-Welt erst recht erschreckend sei. Eigentlich erstaunlich, dass die NYT nur fordert, dass sich der Präsident bei den Amerikanern entschuldigt. Bei seinem Vorgänger reichte die Fähigkeit zu einer sexuell motivierten Selbsttäuschung - wieso sollte man das nicht auch Bill Clinton konzedieren - zu einem Impeachment-Verfahren.

Am erstaunlichsten ist jedoch, dass die Strippenzieherpartie im Pentagon - mit ihrem Schirmherren Dick Cheney - so völlig ungeschoren wegkommt. Sie sind ja nicht nur für die genial konstruierte irakische Kriegslüge verantwortlich, die in der Kombination Terrorismus und Massenvernichtungswaffen unschlagbar war und bis heute funktioniert. Sie sind, und das ist angesichts der heutigen Lage fast noch schlimmer, für das Debakel im Nachkriegsirak verantwortlich: Sie entwanden ja dem Außenministerium beinahe mit Gewalt die Wiederaufbau-Agenden.

Die Frage ist berechtigt, ob diese späte Kriegsgründe-Debatte heute überhaupt stattfinden würde, hätte die Nachkriegszeit einen glücklicheren Verlauf genommen. Wahrscheinlich nicht in dieser Form: Alle Kritiker und Skeptiker - auch die im Standard - hätten zwar Aufklärung verlangt, wären es aber letztlich zufrieden gewesen, denn die Beseitigung eines blutigen Diktators ist ein großer Wert an sich. Sogar die Iraker, die die US-Besatzung hassen und in eine unsichere Zukunft schauen, sehen das laut Umfragen noch immer so. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.6.2004)