Wer den herben Charme der nordfranzösischen Provinzstädte mit ihren heruntergekommenen Industriegebieten kennt, wird von Lille positiv überrascht sein. Die Metropole an der Grenze zu Belgien steht schon auf Grund ihrer Geschichte im Spannungsfeld der Kultur beider Länder.
Erst 1667 hatte Ludwig XIV. Lille seinem Reich eingliedern können. Bis dahin waren die Herzöge von Burgund wie auch die spanischen Könige Herrscher über die blühende Handelsstadt. Kein Wunder also, daß sich hier französischer Esprit und die manchmal behäbige Haltung flandrischen Bürgertums in fruchtbarer Auseinandersetzung gefunden haben, die sich auf das Stadtbild auswirkte.
So wurde etwa vor zehn Jahren die „Alte Börse“ an der Grande Place – heute benannt nach Charles de Gaulle, der in Lille geboren wurde – auf Initiative von 24 privaten Unternehmern hin restauriert. Dieselbe Zahl von Kaufleuten hat schon 1653 die Börse gegründet, die architektonisch jener in Brüssel gleicht.
Gegen dieses Manifest des Bürgerstolzes hatte natürlich die französische Zentralregierung etwas unternehmen müssen. Gleich nach der Okkupation ließ Ludwig XIV. die große „Wache“ an der Grande Place im Stil des klassizistischen Barock errichten. Zu Beginn dieses Jahrhunderts manifestierten die wohlhabenden Bürger noch einmal ihre Selbständigkeit, als sie ihre Handelskammer im prächtigen Stil der Neo-Renaissance bauen ließen. Und schließlich ist der neue Stadtteil „Euralille“ (= Europe à Lille) nahe dem historischen Zentrum auch wieder der Initiative seines Bürgermeisters, Pierre Mauroy, zu verdanken. Doch im Kern ist Lille jene flandrische Stadt geblieben, die sich in verwinkelten Gassen entlang der ehemaligen Kanäle entwickelt hat und immer wieder von jüngeren Verkehrsachsen überlagert wird. Dort finden sich heute in den schmalen Häusern, die sich in tiefe Hinterhöfe erstrecken, auch architektonisch interessante Modegeschäfte und Speiselokale. Aber die ordentlichen „Beisln“, wo deftige Schlachtplatten und Pasteten aufgewartet werden, haben sich erhalten. Bleibt zu hoffen, daß die Olympiade 2004, falls sie in Lille stattfindet, an diesem Zustand wenig ändert.
Eßschlachten
Die Nähe zum Meer und Belgien verkörpert kaum ein Lokal wie die „Huitrière“ in der Rue des Chats Bossus 3. Hier werden fangfrische Meerestiere in einem der schönsten Art-déco-Geschäfte Frankreichs angeboten. Wer keine Lust verspürt, Hummer, Brassen oder Jakobsmuscheln selbst zu kochen, kann sie sich im noblen Restaurant servieren lassen. Dennoch scheut sich Patron Jean Proye nicht, seinen Gästen auch Bier und den hochprozentigen Weizenschnaps „Genièvre“ als solide Produkte der Region zu kredenzen.
Es gibt aber auch andere Spezialitäten. Die Konditorei „Méert“ in der Rue Esquermoise 27 mit ihrem filigranen Biedermeier-Interieur läßt sich durchaus mit dem „Demel“ vergleichen. Und die Schokoladen mit dem zarten Schmelz brauchen die schweizerische Konkurrenz keineswegs zu fürchten. Außer_dem fehlt ihnen der recht _eigen_wil_li_ge „Kuhmilchgeschmack“ belgischer Kakaomischungen.
Nun leben die Menschen auch in Lille nicht nur fürs (Fr)essen allein. Neben der Oper und dem Museum der schönen Künste hat die Metropole so ziemlich alles an kulturellen Einrichtungen zu bieten, wie sie für eine 1,2 Millionen-Metropole üblich sind. Bemerkenswert ist aber das 1237 gegründete Hospice Comtesse, wo sich flandrisches Wohnen im Mittelalter studieren läßt.