Sogar beim Anstoßen gab es noch Probleme. Der Champagner stand schon if dem Tisch, als Polens Regierungschef Marek Belka die Feierlaune zu vermasseln drohte. Er begann noch einmal über den fehlenden Gottesbezug zu lamentieren. Nur mit vereintem Druck der anderen 24 Staatschefs gelang es, Belkas letzte Einwände abzuwehren - worauf endlich der Champagner entkorkt und auf die neue Verfassung angestoßen werden konnte.

Es war eine mühsame Geburt. Bis zur letzten Minute wurde am EU-Gipfel in Brüssel um Details gefeilscht und versucht, nationale Interessen durchzusetzen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, warum die EU die in der Verfassung festgeschriebenen Reformen dringend braucht - das Verhalten der 25 Staatschefs hat ihn ungewollt, aber eindrucksvoll geliefert. Der europäische Kuhhandel hat allzu oft eine Einigung verhindert und auch die Verfassung erst im zweiten Anlauf Gestalt werden lassen - künftig sollen Entscheidungen einfacher und transparenter werden.

Mit dem Verfassungsvertrag verpasst sich die erweiterte EU das Fundament einer europäischen Demokratie und überzieht den Staatenbund mit einem Dach von garantierten Grundrechten. Zudem gibt die Verfassung Europa neue Gesichter: das eines festen Ratspräsidenten und das eines neuen Außenministers. Von der Person dieses ersten Außenministers wird abhängen, ob er dem neuen Amt Konturen verleihen kann. Ob er also die berühmte von Henry Kissinger gewünschte Telefonnummer hat, über die europäische Außenpolitik koordiniert wird - oder ob er über die Funktion eines Frühstücksdirektors nicht hinauskommt.

Der wichtigste Fortschritt der Verfassung ist wohl die künftige Entscheidungsfindung. Sie macht die EU handlungsfähiger - wenn auch bei weitem nicht in dem Ausmaß, das sich der Konvent mit seinem Verfassungsentwurf gewünscht hätte. Das nationale Tauziehen hat den größten gemeinsamen Nenner verhindert und nur den kleinsten Nenner zugelassen. Auch künftig bleibt die Suche nach einer Mehrheit eine Angelegenheit für juristische und mathematische Feinspitze. Eingebaute Hürden wie die "superqualifizierte Mehrheit" und die Möglichkeit einer Notbremse haben zwar Verfassungszauderer wie Polen oder Großbritannien beglückt, den Entwurf aber verwässert.

Das mag es den Staatschefs, die in ihren Ländern nun Abstimmungen über die Verfassung durchzustehen haben, zwar leichter machen, sich als "Sieger von Brüssel" darzustellen - den erhofften großen Wurf haben die komplizierten Kompromisse und die nationale Eigenbrötlerei verhindert. Etliche Bremsen wurden angezogen, um den Weg ins neue Europa nicht mit Vollgas zurückzulegen. Aber immerhin, gegenüber Nizza 2000 ist Brüssel 2004 ein Fortschritt - das sollte bei allem Ärger über die Verwässerungen in letzter Minute nicht übersehen werden. Der Abschied vom Veto ist zumindest in Teilbereichen festgeschrieben.

Auch das Europaparlament bekommt mehr Rechte - wenn auch weniger als im Konventsentwurf vorgesehen. Ein unschönes Paradebeispiel für Realpolitik: Den Verfassungsentwurf haben Parlamentarier geschrieben - und die Runde der Staatschefs hat sich in einer Grenzüberschreitung der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive geweigert, allzu viel Macht an das Parlament abzugeben.

Bei der Kür des Kommissionspräsidenten hat das Parlament aber ein gewichtiges Wort mitzureden. Auf dem Gipfel ist die Suche nach dem Präsidenten an gegenseitigen Pattstellungen gescheitert. Auf einem Sondergipfel sollen mit neuen Kandidaten Streit und Blockaden durchbrochen werden. Es wäre von Anfang an klüger gewesen, die heikle Personalfrage und den Bau der Verfassung zu trennen. Schon die Verfassung hat die Grenzen der Einigungsfähigkeit in der neuen EU deutlich aufgezeigt - mit der Präsidentenkür war die Grenze auf diesem Gipfel deutlich überschritten. Und so hat das Personalhickhack fast überschattet, dass endlich zumindest die Verfassung gelungen ist. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.6.2004)