Szene aus dem Opern-Einakter "Pierrot lunaire op. 21" im Rahmen der Wiener Festwochen als Teil von "Tripychon"

Foto: Festwochen
Immer wenn es Festivals vor der Beliebigkeit ihrer eigenen Programmierungen graut, erfinden sie sich ihre Widersacher - die sie sich offenbar vorher ausdenken müssen - gleich selbst.

Es blieb den Wiener Festwochen somit vorbehalten, sich vorneweg gegen alle möglichen Einsprüche zu immunisieren. Dass es ohne sie "so schön" geworden wäre, wie es über einem kitschigen Gletschermilchprospekt auf dem Deckel des Programmbuchs geschrieben stand, ist eine treuherzige, in Wahrheit aber ärgerliche Behauptung.

In Wahrheit sind die Festwochen, die sich damit schmeicheln, eine Importfirma zu sein, mit Blick auf das Schauspiel ein Vertreiber von Massenware geworden. Mit der fast schon rührenden Wiederaufnahme einer bolschewistischen Argumentationshilfe durfte heuer die Quantität für die Qualität - dort, wo Letztere ausblieb - einstehen. Irgendwann müsse, so das Kalkül, die überwältigende Zahl der eingeladenen, im bescheidenen Ausmaß auch selbst angefertigten Produktionen ein übergroßes Ganzes erzwingen.

Wer nach sechs Wochen noch immer nicht hold erschlafft war, dem schickten die fröhlichen Programmieren den ganzen Proust mit lieben Grüßen hinterher.

Anhand von Guy de Cassiers besonders entbehrlich wirkendem Rotterdamer Lesefrüchteladen (A là recherche du temps perdu) konnte man noch einmal nachprüfen, warum die Übernahme filmischer Produktionsmittel kein Theaterereignis verbürgt. Vor dem ungerührten Standgericht der Mikrofone, vor den Glotzaugen der unvermeidlichen Kameras werden Prousts mäandernde Sätze zu hässlichen, kleinen Wurmfortsätzen einer nur noch im Vorbeigehen zitierten, in Wahrheit abgehalfterten Modernität. Längst gleichen die Festwochen einer häufig besinnungslosen Produktenbörse - die umschlägt, was der Markt an Kolportierbarem bereithält.

Ibsen-Schwerpunkte schießen wie Pilzkolonien aus dem Boden. Plötzlich ist Solness (Ostermeier) ein Bruder im Geiste des Peer Gynt (Zadek). Die Nora von heute schießt ihren ungeliebten Gemahl über den Haufen - und ebendieser ideologische Kompost hätte es verdient, auseinander geklaubt zu werden.

Geschieht aber nicht, da die Oberleitung zwar die gefeierte Berliner Nora einlädt, von einer Programmierung der so ganz anders gearteten Hamburger Nora-Unternehmung von Regisseur Stephan Kimmig, die wesentliche Zwischentöne bereithielt, jedoch großzügig absieht. Selbstverständlich verbieten sich Einwände, wenn planerische Willkür die Weltoffenheit, die sie Festwochen-Besuchern abverlangt, als ihr Ansinnen eigensinnig dekretiert.

Wesentliche Begriffe wie "Kosmopolitismus", "Öffnung gegenüber dem Osten" schießen mit schräg angedachten Plandaten - Februar 1934 - blindlings ins Kraut. Es bleibt eine der vorhersehbaren Pointen eines mediokren Festwochen-Jahrgangs, dass die Beteiligung heimischer Kräfte am Theateraufkommen das süße Flair des Dilettantismus verströmte. Ob man sich an gymnasialen Geschichtsaufarbeitungen im bühnenfertigen Klassenzimmer erfreuen mag, bleibt letztlich Ansichtssache. Der Grund für die Ermüdung sitzt tiefer. Intendant Luc Bondy, trotz einer leidlich missratenen Martin-Crimp-Uraufführung ein gottbegnadetes Glückskind der Regiekunst, kann die Auszehrung ursächlicher Antriebskräfte nicht vergessen lassen.

Bondy ist ein quecksilbriger Geist. Ihn drängt es nach einer Ungebundenheit, die ihm ein Weltfestival letztlich nicht einräumen kann.

Bondy muss schillern: Ein instinktiver Künstler seiner Statur kann an den Schmerz erinnern, den die Vertreibung und die physische Vernichtung der jüdischen Intelligenz für das kulturelle Gemeinwesen gerade hierorts bedeutet.

Die Verpflichtung auf einen Mainstream der Luxusklasse bedeutet aber auch die Auszehrung vorhandener Kräfte. Seitdem klar geworden ist, dass die bundeshauptstädtische Theaterreform die Stärkung der Unterhaltungskultur im Schilde führt, fänden sich koproduktionsfähige Ansprechpartner zuhauf. Die Festwochen, obzwar mit dem Bund im Krieg und mit der Gemeinde im Schlepptau, könnten eines: darwiderhandeln.

Ohne die Programmierung eines zickigen Molnàr-Abends in der Regie von Georg Staudacher gering zu achten: Es gibt genug berührungswillige Theaterproduzenten auch jenseits der Backsteinmauern des Rabenhofs.

Es geht eben nicht darum, dass ausschließlich heimische Marmelade ins Glas hineinkommt. Es müsste aber für die nun ein Jahr lang pausierende Schauspieldirektorin Marie Zimmermann möglich sein, über Planungsstadien hinauszugelangen - und für ein Festival, das schwer an Argumentationslasten trägt, ein paar heimische Irrlichter zu entzünden. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.6.2004)