Dabei braucht das Theater natürlich einen Fremdenführer. Sonst fiele es womöglich in die erstbeste Gerechtigkeitslücke, und erführe wieder nichts vom großen, weiten Elend der großen, weiten Welt. Das Hamburger Thalia Theater vertraut sich auf solchen Expeditionen gern der Dramatikerin Dea Loher an. Diese, 1964 in Traunstein, Oberbayern, geboren, ist nicht bloß Expertin für ober- und vielleicht auch niederbayerische Miseren. Sie hatte auch eine nach Brasilien, ausgewanderte Großtante. Schau'n wir also, was auf einem dortigen Brennpunkt so abgeht.
Nur müsste man dafür erst einmal raus aus dem sozialklimatisierten Stadttheater. Nach vorn geht's nicht, dort sitzt im kleinen Haus des Thalia Theaters das Publikum, das vom Leben auf der Reeperbahn schon nichts weiß, geschweige denn vom - so der Titel des neuen Stücks - Leben auf der Praça Roosevelt. Und hinten, rechts und links verstellt eine weiße Gummiwand den Weg, auf der eine portugiesische Inschrift die Passanten anbettelt, stehen zu bleiben und den "dolor meo" zu würdigen. Also lässt der Regisseur Andreas Kriegenburg die Wände wackeln, indem sich sein sechsköpfiges Ensemble dreieinhalb Stunden mit Anlauf dagegenwirft, was hübsch verzweifelt ausschaut.
No way out
Es sind aber nicht die abgebrannten Figuren auf der Praça Roosevelt in São Paulo, Brasilien, die Arbeits- und Obdachlosen, Transvestiten, Glücksucher, Streuner, Dealer, Halb- und Ganztoten, schon gar nicht der Polizist und sein Waffenlieferant, die keinen Ausweg mehr wüssten. Es ist das Theater, das sich nicht mehr in der Lage sieht, den aufgeklärten Erlöser zu spielen. Kriegenburg gelingt das Kunststück, die Elendsfolklore spielerisch aus dem Text zu klopfen und dabei den Figuren mehr zu geben als zu nehmen: eine komisch ernste, schräge Theaterpräsenz.