Bild nicht mehr verfügbar.

Der Hafen von Marseille

Archiv
Wer heute Marseille einen Besuch abstattet, wird den Eindruck haben, dass sich Frankreichs älteste Stadt, das bereits vor 2600 Jahren von griechischen Kolonisten gegründete, spätere Massilia, dieser Tage wieder einmal neu erfindet. Reist man im supermodernen TGV an, der Marseille und Paris zuletzt auf drei Stunden und ein paar Minuten Fahrzeit zusammenrücken lässt, so verrät vielleicht der eine oder andere mitreisende Kreativ- oder Medienfritze Näheres zur wunderbaren Wandlung der archetypischen Hafenstadt. Vom Medienhype und den Jour-fixe-Terminen in angesagten Bars wie dem "Le New York" wird vielleicht die Rede sein. Und von neuen Musiktalenten, die in die Cafeteria "La Friche" hineinschneien.

Echnaton und Massilia Sound System heißen die Helden dieses neuen, rappenden Marseille. Sanfte Revoluzzer, die nun der Welt große Ohren machen. Offiziell heißt der Motor hinter diesem Designer-Marseille "Euroméditerranée", kostet Frankreich drei Milliarden Euro und verwandelt zurzeit das Hafenviertel La Joliette in einen urbanen Urwald aus Baukränen und bereits eröffneten Schickimicki-Cafés.

Beispiel Les Docks: Die sensibel restaurierten alten Speicher sind mittlerweile von Firmen bezogen, und zwischen den ehemaligen Lagerhallen aus Backstein wird nun Trendfutter kredenzt. Ein Hauch von Goldgräberstimmung liegt über der Gegend. Dabei ist bislang lediglich ein erster Anfang geschafft: Demnächst wird der Umbau des benachbarten ehemaligen Getreidespeichers Le Silo zum Theater mit Dachrestaurant abgeschlossen werden, während am Fort Saint-Jean eine neue Promenade samt Museum für die Kulturen des Mittelmeerraumes entsteht. Lebhafte Kommunikation - eine am aromatischen Fischmarkt beobachtete Stärke der Stadt - scheint aber auch im neuen Hightech-Zeitalter eine lokale Tugend zu bleiben.

Vier Glasfaserkabel - darunter das berühmte "Sea Me We 2", das Asien mit Europa verbindet, laufen über Marseille - und bescheren der Stadt ein außergewöhnliches Netz an leistungsstarken Telekom-Möglichkeiten. So weit, so trendy. Dass das "Tor zum Orient" weniger mit Beton und Politik, sondern vielmehr mit jener Offenheit und Toleranz gebaut wurde, die einer wahrhaft mediterranen Stadt ansteht, entdeckt man hier nämlich auf Schritt und Tritt. Und natürlich auch, dass der Bau eines "Museums für die Kulturen des Mittelmeerraumes" in einer Stadt wie Marseille eine reine Fleißaufgabe ist.

Schließlich brodelt ringsum - nein: kein Museum - sondern ein regelrechtes Labor der Mittelmeerländer. Exotische Märkte wie jener von Cours Julien überzeugen Zweifler wohl auf den ersten Blick. Little Dakar möchte man den Ort nennen, an dem das Bananengelb und Papayagrün der hier verhökerten Früchte im lärmenden Farben-Krawall der afrikanischen Kleidermoden kläglich untergehen. Ein kleines Spektakel, eine sinnliche Attacke, vielleicht auch nur ein übervoller Mülleimer, an dem sich Miezen um Anchovisreste balgen, lauert in jedem Fall hinter jeder zweiten Häuserecke von Marseille.

Auch Tumulte lauern. Leise sind nämlich weder die Bewohner noch die Gässchen der vollaromatischen Stadt. Und sind die Läden geschlossen, so schreien zumindest noch die Graffitis an den heruntergelassenen Rollläden. Oder aber es plärren die Autoradios falsch geparkter Rostlauben. Durchreisende Kfz-Mechaniker können hier besonders schnell Freundschaft schließen.

In provenzalischer Ringelblumen-Romantik und Bauernkeramik-Glasur erschöpft sich diese Stadt nicht - den sechzig Bouleklubs von Marseille, in denen die traditionelle Kunst des südfranzösischen Eisenkugel-Gitschens geübt wird, zum Trotz. Marseille ist Mittelmeer mit Straßenpflaster, damit basta.

Wer das alte Gassenwerk des nördlich vom Alten Hafen gelegenen Quartier Panier erkundet, findet hier stille, ja mittelalterliche Winkel, in denen ab dem 13. Jahrhundert Ordensleute lebten und sich einst fünfzehn Windmühlen drehten. Heute rotieren höchstens die heißblütigen Einheimischen - etwa wenn man ihnen mit der Kamera zu nahe kommt.

Dem oberstädtischen Quartier Panier haftet ja bis auf weiteres ein gewisses Underdog-Image an. Neben ersten Kunstgalerien, die nun hier ihre Pforten öffnen, finden sich eben auch noch all jene Typen, die Marseille zu dem machen, was es war und ist. Tätowierte Anker und hüpfende Nixen am Bizeps finden sich sowieso, und natürlich die meisten Laufmeter Goldkette pro Quadratmeter Brustmuskulatur innerhalb der EU. Über die jüngste Maorisierung Europas, diese pubertäre "Tatoo-für-jeden-Milchbubi"-Mode kann man im Quartier Panier bestenfalls lachen. - Und zwar vermutlich so, wie Kater Carlo das tut: Harr! Harr! Harr! (DERSTANDARD/rondo/Robert Haidinger/25/06/04)