Vor 50 Jahren, am 27. Juni 1954, wurde in Obninsk das weltweit erste AKW in Betrieb genommen. Bis zur Abschaltung vor zwei Jahren arbeitete die Wissenschafterin Ninel Epatowa dort. Im Gespräch mit Eduard Steiner erinnert sich die 82-Jährige an das historische Ereignis.

Standard: Lange vor dem Bau des ersten AKW in Obninsk wurden bereits atomare Zentren in der Sowjetunion eingerichtet. Was wissen Sie davon?

Ninel Epatowa: Im April 1945 brach eine Expedition von 25 Leuten nach Wien, Berlin und in andere Städte auf, um Atomphysiker, Uran und Dokumente zu suchen und in die Sowjetunion zu bringen. Erlangt wurden eine reiche Dokumentation, pulverartiges Uran und ein klares Bild, dass die Deutschen unter der Führung Heisenbergs in der Vorbereitung einer gelenkten Kettenreaktion bei Natururan weiter waren als wir. Allerdings fand man keine Spuren zur Arbeit an der Bombe. Im Dezember 1945 beschloss die Regierung, zur Arbeit auf dem Gebiet der Kernphysik auch deutsche Wissenschafter heranzuziehen. So kam im August 1946 eine Gruppe von Kernphysikern aus Ostdeutschland, vor allem von der Uni Leipzig. Sie wurden vier speziell zur Atomforschung errichteten Geheiminstituten zugewiesen - den Labors "A" und "G" in Suchumi, "B" im Ural und "V". Letzteres stand stand nahe Moskau am Ufer des Flusses Protva. Zuvor befand sich dort eine Arbeits-und Erziehungskolonie für Kinder. Geleitet wurde Labor "V" zunächst vom Kernphysiker Heinz Pose. Aus Deutschland kamen auch Laborausstattung, Materialien und eine große wissenschaftliche Bibliothek. In wenigen Jahren eigneten sich aber die jungen russischen Wissenschafter alle Feinheiten des Forschungsprozesses an, sodass die Deutschen 1952 zurückkehrten.

STANDARD: Wie und wann kamen Sie ins Labor "V"?

Epatowa: Zu Kriegsende studierte ich an der radiotechnischen Fakultät. Eines Tages zitierte man mich und noch einige Studenten ins Dekanat. Man sagte uns, dass wir mit Ende des Studiums zur Arbeit im mittleren Streifen Russlands zugeteilt und gut bezahlt würden. Das war's. 1949 kam ich nach Tscheljabinsk-40. Dies war eine geheime Stadt, umgeben von Stacheldraht und auf keiner Karte eingezeichnet. Jahrelang durften die Leute sie nicht verlassen, selbst wenn einer von den Nächsten verstarb. Auf den dortigen Kernreaktoren erlangten wir Plutonium für die Bomben. Der radioaktive Müll wurde in spezielle Kanonenbehälter geleert. Einer von ihnen explodierte 1957 - diese Katastrophe ist die zweitgrößte nach Tschernobyl. Glücklicherweise war ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr dort. Ich wurde 1953 ins Objekt "V" verlegt - also nach Obninsk.

STANDARD: Auch so geheim?

Epatowa: Als wir die technische Dokumentation über das Projekt lasen, fanden wir darin nicht einmal eine Erwähnung des Atomreaktors. Er wurde Kristallisator genannt, Neutronen waren Nullpunkte, Uran 235 als Olovo 115 verschlüsselt, Plutonium 239 als Tellur 120, Grafit als Keramik und so weiter.

STANDARD: Und wie ging der Bau des AKW vor sich?

Epatowa: Es wurden extrem kurze Fristen gesetzt. Daher verliefen die Ausarbeitung des Projektes AKW und dessen Bau gleichzeitig. Durch Arbeit rund um die Uhr wurde das weltweit erste AKW in weniger als drei Jahren errichtet. Baubeginn war im September 1951, Gefangene hoben die Baustelle händisch aus. Man baute anhand von Skizzen, die immerfort abgeändert wurden. Letztlich entschied man sich für einen Uran-Grafit-Reaktor mit Wasserkühlung. Nebenbei wurde ein Reaktor für ein Atom-U-Boot errichtet. Damit hatte man zwei Fliegen mit einem Schlag. Es tauchten viele Probleme auf. Schwierig war es etwa, eine Turbine für das Atomkraftwerk zu finden - es gelang aber, eine antiquarische Rarität auf den Halden in Moskau zu finden, eine deutsche Turbine aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

STANDARD: Was passierte am Tag der Inbetriebnahme des ersten AKW, am 27. Juni 1954?

Epatowa: Der Reaktor wurde überhaupt schon am 9. Mai eingeschaltet. In der angespannten Arbeitsatmosphäre dachte nicht einmal irgendwer an eine feierliche Eröffnung. Wir jungen Mitarbeiter begingen dieses historische Ereignis bei einem nächtlichen Lagerfeuer am Ufer des Flusses Protva. Am 1. Juli 1954 erschien in der Pravda eine kurze Mitteilung über die Inbetriebnahme des AKW. Der Ort blieb vorerst ein Geheimnis. Erst Ende 1954 änderte sich das. Ab dann kam dem AKW die Rolle eines mächtigen Mittels zur Propaganda der Errungenschaften und der friedlichen Ausrichtung der Sowjetunion zu.

STANDARD: Kamen häufig ausländische Delegationen?

Epatowa: Gleich ganz am Anfang kam Frédéric Joliot-Curie, der Vater der Atomphysik. Als einer der ersten Staatschefs kam Indiens Premierminister Neru. In den ersten Jahren kamen viele Chefs der mit der UdSSR befreundeten Staaten nach Obninsk: Zedenbal, Sukarno, Tito und andere. So waren binnen zweier Jahrzehnte mehr als 2000 Delegationen aus fast allen Ländern der Erde hier. Obninsk wurde zum Mekka der Atomenergie, zum Pilgerzentrum für Exkursionen aus aller Welt.

STANDARD: Gab es Unfälle?

Epatowa: Natürlich gab es Probleme, schließlich war es das weltweit erste AKW. Aber während der ganzen Zeit ereignete sich kein auch nur irgendwie bedeutsamer Unfall, niemand wurde verstrahlt.

STANDARD: Was taten Sie dort?

Epatowa: Ich leitete die Abteilung, die die Kontrolle der Messgeräte gewährleisten musste, wir waren also zuständig für die Richtigkeit der Arbeit aller Diagnosegeräte. Vor kurzem war ich im Kraftwerk und sah, dass die Zeiger aller Geräte auf null stehen. Erst da begriff ich, dass das Kraftwerk gestorben ist. (DER STANDARD, Print, 25.06.2004)

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