Wenn es nach Michael Moore geht, dann können alle, die es satt haben, nicht oder falsch informiert zu werden, in Fahrenheit 9/11 "eine Menge Neuigkeiten erfahren", "wenn man uns erzählen lässt, was wir zu erzählen haben". Keine Angst: Man lässt. Und selbst wenn die US-Filmbewertungsbehörde MPAA Moores neuen Film erst ab 17 Jahren für geeignet hält, werden jetzt wohl auch Hunderttausende Teenager (in Begleitung ihrer Eltern) Augen und Ohren aufsperren.
Denn: Die letzten Präsidentschaftswahlen waren - vor allem in Florida - eine schwere Schiebung. Die Beziehungen zwischen den Familien Bush und Bin Laden sind geprägt von starken wirtschaftlichen Interessen und haben lange Tradition. Die Sicherheitsmaßnah- men nach 9/11 waren teilweise ein schlechter Scherz, der Krieg in Afghanistan und im Irak eine abgekartete Sache. Mittlerweile murren bereits die Soldaten an der Front, weinende republikanische Mütter wenden sich von George W. Bush ab. Jetzt hilft also nur noch eins: bei der kommenden Wahl die Demokraten wählen. (Wo ist eigentlich deren Spitzenkandidat?)
Ist das neu? Hat man das nicht schon in Büchern - zum Beispiel von, äh, Michael Moore - gelesen? Okay, versuchen wir's anders herum. Michael Moore: "Man sieht Dinge in diesem Film, die vorher so noch nicht zu sehen waren." Das kommt dem Kino als Spektakel schon weit eher entgegen. In der Tat haben Moore und sein Team "spektakuläres", anschauliches Material zusammengetragen und montiert, das seriösen, objektiven Berichterstattern wie jenen von Fox Channel offenbar zu wenig eindeutig erschien: republikanische Politiker, die schon einmal mit Spucke nachhelfen, um widerspenstige Haarscheitel vor TV-Interviews zu glätten; ein Präsident, der auch vor Kriegserklärungen gern Witze macht - oder nach gewichtigen politischen Statements lieber wieder Golfkünste demonstriert. Überhaupt: George W. Bush, wie ihn Michael Moore in seinen Büchern nie beschreiben konnte, weil man ihn einfach gesehen haben muss, etwa wenn er in dieser Schulklasse vom Angriff auf die Twin Towers erfährt - und dann einige tragikomische Minuten lang, mit einem Bilderbuch vor Augen, gar nichts tut.
Man könnte dem Präsidenten, wie er da auf seiner Unterlippe herumkaut, eine Art von Entsetzen zuschreiben (wie es Bob Woodward getan hat). Man könnte Schuldbewusstsein in ihn hineininterpretieren (siehe Verschwörungsspezialisten wie Matthias Bröckers). Bei Michael Moore hingegen ist Bush schlicht ein ewig Unbegabter, möglicherweise sogar ein Idiot. Kurz, wir sind wieder einmal bei Heil und Unheil filmischer Montagetechniken, über die sich seit frühesten Kinozeiten vor allem das Agit-Prop-Kino den Kopf zerbrochen hat. Wir sind bei Dziga Vertov und einem weinenden Kind, dem man einen Hund, einen leeren Teller oder sonst etwas entgegenschneiden kann, und dann liest man: Angst, Hunger oder eben sonst was.
Und Michael Moore liest eben: Idiot - es liegt aber im polemischen Wesen der Propaganda, dass sie ihre "Schnitte" nicht ausweist, möglichst kompakt daherkommt, sich nicht zuletzt mit einfachen Feindbildern wie "Idiot" bescheidet. Und daher lässt auch Michael Moore keinen Raum für denkbare Zweifel und Irrtümer. Was er in seinen Büchern behauptet hat, konnte auf juridischer Ebene nicht beeinsprucht werden. Jetzt "stimmt" das, was er (immer schon) sagt, auch im Kino. Neu sind hier also vor allem die Verteilerkanäle, in denen sich die Verschwörungstheorie behaupten muss. Sie heißen: Sommerkino (das muss fetzen), Multiplex-Center (das braucht starke Slogans), und überhaupt breiteste mediale Verbreitung - vom Boulevardmagazin aufwärts. Letztlich kann Michael Moore also nicht wesentlich differenzierter und subtiler argumentieren als seine "Gegner". Keine Sorge, er tut es auch nicht. Umso erstaunter war die (vorwiegend europäische) Kritik, als Fahrenheit 9/11 mit der Goldenen Palme in Cannes zum filmischen Meisterwerk hochgelobt wurde. Unterhaltsam ist Moore ja, mitunter sogar auf unüblich zurückhaltende Art, was die Stilisierung der eigenen Person angeht, aber ein großer Dokumentarist?
Vielleicht muss man, um die Zeichen der Zeit besser lesen zu können, lediglich die Bilder, welche diese Zeit in so gewaltigem Ausmaß in Umlauf bringt, genauer beschreiben. Das jüngste Plakat zu Fahrenheit 9/11 (siehe Seite A1) zeigt George W. Bush und Michael Moore auf sattgrüner Wiese unter strahlend blauem Himmel vor dem Weißen Haus. Hand in Hand stehen sie da, eine klar erkennbare Fotomontage, aber dennoch höchst plausibel, und darüber der PR-Slogan: Controversy. What Controversy? Natürlich lässt das Bild den Schluss zu, dass hier jemand vorgeführt werden soll wie ein tumber Tor: George W. Bush nämlich, der sich da offenbar mächtig freut, dass er endlich im Kino ist, vielleicht sogar als "bester Hauptdarsteller" und Oscar-Kandidat. Und Michael Moore grinst neben ihm, als wüsste er selbst nicht so genau, was er von dieser naiven Freude halten sollte.