Mit der Entdeckung der Molekülstruktur des menschlichen Erbguts im Jahr 1953 begann der kometenhafte Aufstieg der Genetik, der 48 Jahre später mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms einen Höhepunkt erfuhr. Diese wissenschaftliche Leistung ist unwidersprochen anzuerkennen, die daraus gewonnenen Erkenntnisse etwa rund um die Entstehung von Krankheiten führte zur Entwicklung einer Vielzahl neuer Therapien, die wohl schon Millionen von Menschen geholfen haben. Doch sollten sich Wissenschafter, Mediziner und vor allem Gesundheitspolitiker tunlichst davor hüten, ob dieser sensationellen Erfolge nun selbst abzuheben. Die jüngste Empfehlung einer EU-Expertentruppe, alle Neugeborenen künftig einem genetischen Screening auf etwaige Erbgutschäden zu unterziehen, böte dazu den entsprechenden Treibstoff - hoffentlich wird er von den Bürokraten nicht gezündet. Zumindest nicht in der heute vorliegenden Form. Wesentliche Punkte ungeregelt Wesentliche Punkte sind dabei nämlich überhaupt nicht geregelt: zum einen, welche Gene analysiert werden sollen und welche nicht. Weiters ist nicht geklärt, wie eine entsprechende - vor allem psychische - Betreuung der betroffenen Eltern zu erfolgen und wer sie zu bezahlen hat. Drittens lässt auch die vorgesehene Freiwilligkeit etliche brisante Fragen offen, unter anderem die, ob Versicherungen die Bezahlung einer Behandlung verweigern können, wenn Eltern einen solchen Test ablehnen und das Kind später doch an einem Erbleiden erkrankt. Und schließlich der Datenschutz.

Ganz abgesehen davon bedürfte es vor der Implementierung solcher Screenings einer klaren Definition dessen, was Krankheit und Krankheitsdisposition und was bloße Disposition ist. Denn es wäre fatal, genetische Daten mit medizinischen Daten gleichzusetzen. Genauso wenig, wie jede Krankheit immer auf einen entsprechenden Gendefekt zurückzuführen ist, kann von einem Gendefekt nicht immer auf eine daraus resultierende Krankheit geschlossen werden. Denn was den Menschen ausmacht, ist bei weitem nicht die Summe seiner Gene.

Auf was soll man also screenen? Vielleicht auf Chorea-Huntington? Diese Krankheit tritt ab dem 30. Lebensjahr auf und führt zu völliger Demenz. Die entsprechende Genmutation kann bei Babys entdeckt, die Krankheit aber noch nicht behandelt werden. Was, wenn Eltern wissen, dass ihr Kind betroffen ist? Sollen sie ihm ein Studium bezahlen, wenn sie aufgrund des Tests davon ausgehen müssen, dass es relativ jung verblödet? Was wird die Wirtschaft machen, wenn sie an entsprechende Daten gelangt? Dass das betroffene Kind sich später am Arbeitsmarkt schwer tut, liegt auf der Hand. Das interessiert natürlich auch die Sozialversicherung. Und schon dreht sich die fatale Spirale der Diskriminierung. Wenig Wissen dient der therapeutischen Verwendung Tatsache ist, dass nur ganz wenig Wissen von Genveränderungen, die tatsächlich zu Krankheiten führen, auch zur Prophylaxe oder Therapie verwendet werden kann. Zum Beispiel Phenylketonurie. Das wird in Österreich und vielen anderen Ländern schon seit Jahrzehnten routinemäßig bei Babys untersucht, und im Fall des Falles können betroffene Eltern durch eine gezielte Diät bis zur Pubertät des Kindes geistige Folgen verhindern. Das ist gut so und zu befürworten. Bei Genmutationen, wo gleichermaßen solche effizienten Vorsorgemöglichkeiten vorhanden sind, soll man ebenfalls testen. In Brüssel ist aber auch die Rede von Gendefekten, die man mittels Gentherapie beheben könne. Das ist unseriös, alle bisherigen Gentherapien sind entweder gescheitert oder haben zu anderen teils tödlichen Erkrankungen geführt. Hier die EU-Staaten zu flächendeckenden Babyscreenings aufzufordern bringt jedenfalls eines: ein nicht eingelöstes Heilsversprechen und ein genetisches Kainsmal, mit dem Betroffene psychisch fertig werden müssen - egal, ob die Krankheit ausbricht oder nicht: Das Gros der Gentests kann nur Krankheitswahrscheinlichkeiten ausloten. Gene sind nun einmal keine Determinanten über das Leben oder dessen Wert. (Andreas Feiertag/DER STANDARD, Printausgabe, 7.7.2004)