Walter Thirring, langjähriger Ordinarius für Theoretische Physik an der Universität Wien, hat ein faszinierendes Buch vorgelegt, das sich die kosmische Evolution, die Frage, wie die Welt entstanden ist, und insbesondere, ob dieser Prozess natürlich erklärbar sei oder einer übernatürlichen Intervention bedürfte, zum Thema gesetzt hat. Viele andere haben sich analoge Aufgaben gestellt, von den unterschiedlichsten Positionen her, mit wechselndem Erfolg und einem Riesenspektrum divergierender Antworten. Was Thirrings Zugang auszeichnet, ist eine rare Kombination von seriöser, tiefe Einsichten in Physik und Mathematik manifestierender Wissenschaftlichkeit, völligem Fehlen jeder dogmatischer Anwandlung, großer Ehrfurcht vor den Wundern der Schöpfung und einer künstlerischen Fantasie, die an Thirrings zweite große Begabung, die Musik, denken lässt.

Das Denken über die Natur hat - sehr vereinfacht gesprochen - in den letzten Jahrhunderten zwischen zwei diametral entgegengesetzten und von vielen für unvereinbar gehaltenen Positionen stattgefunden: dem religiösen, auf einen Schöpfer zurückführenden und dessen Eingreifen annehmenden Ansatz und einem strengen Determinismus, der die Welt nach vorgegebenen Gesetzen abschnurren lässt, extrem formuliert etwa im berühmten Satz von Laplace, dass er die Hypothese eines Gottes für das Funktionieren des Planetensystems nicht brauche . . .

Thirrings Bestreben geht nun dahin, zu zeigen, dass Religion und Wissenschaft keineswegs Widersacher sind, vielmehr die Naturwissenschaften die Genesis der Bibel glorifizieren (um seine eigene Diktion zu verwenden). Das Weltall, wie es sich heute darstellt, sei durch die Naturgesetze so geworden, allerdings unter Mitwirkung ganz exorbitanter, möglicherweise von Gott induzierter Zufälle, ohne die alles schief gegangen wäre.

Thirring hält somit die Möglichkeit offen, dass für die Evolution eine theistische Version des wohlbekannten anthropischen Prinzips gilt - dergestalt nämlich, dass Gott die Entwicklung seiner Schöpfung so leitet, dass sein Ebenbild, der Mensch, entstehen kann. Doch ist der Autor weit davon entfernt, eine eindeutige Antwort zu geben, geschweige denn einen - logisch unmöglichen und zudem von einem Hauch von Blasphemie umwehten - Gottesbeweis erbringen zu wollen. Vieles, früher Unverständliches sei heutzutage erklärbar, wenn auch nur "durch neue, wundersame Fakten".

Das Buch, das Kardinal Franz König in einer seiner letzten schriftlichen Äußerungen mit einem Geleitwort versehen hat, gliedert sich in sieben Kapitel:

1. Die Entstehung der Welt mit dem Urknall und dem Ursprung der dafür nötigen Energie: das Wesentliche der biblischen Genesis als Vorwegnahme der Naturwissenschaft. Das göttliche "Es werde Licht" als dem Bewusstsein der damaligen Menschen angepasste Kurzformel für die Instabilität des Vakuums in der Quantengravitation, aus dem sich eine Lichtlawine und erst später die Materie als führender Energieträger entwickelt hat.

2. Zufall versus Notwendigkeit in den Naturgesetzen, mit dem feinen, aber fundamentalen Unterschied zwischen erklärbaren und vorhersagbaren Zuständen chaotischer Systeme. Wahrscheinlichkeitsüberlegungen als zentrale heuristische Position.

3. Die Entstehung der chemischen Elemente und die Ideen über die Grundstruktur der Materie von Leukipp und Demokrit bis zum "Standard-Modell" der Fundamentarteilchen (Leptonen, Quarks, Eichteilchen).

4. Verlauf des Sternenlebens mit Geburt und drei Arten von "Begräbnis": alles ein riesiger Planungsaufwand mit raffinierter Abstimmung der auftretenden Parameter, nur damit "du und ich, winzige Kreaturen, auf einem kosmischen Stäubchen, genannt Erde, leben können?"

5. Unser Planetensystem und seine Keplerschen Gesetze, samt allen Tücken, die einer totalen Berechenbarkeit im Wege stehen.

6. Entstehung des Lebens im Lichte subtiler Entropie-Überlegungen (widerspricht es nicht dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik?) und unter der Protektion der Anomalien des Wassers, "an denen sich das Leben emporrankt".

7. Und schließlich - als Krönung - drei Varianten des anthropischen Prinzips. Der Autor bekennt ein, dass auf die Frage einer natürlichen Erklärbarkeit der kosmischen Evolution keine eindeutige Antwort gegeben werden könne - doch habe sich die Beschäftigung damit gelohnt, weil sie uns "das Staunen über den aufs Feinste abgestimmten Bauplan des Universums gelehrt" habe.

Immer schon fasziniert hat mich an kosmologischen Überlegungen die Kombination aus kühner, an science fiction gemahnender Extrapolation und hochwissenschaftlich-quantitativer Durchrechnung der betreffenden Vorgänge; bei Thirring finden wir solches auf Schritt und Tritt. Ein Beispiel von vielen: die äußerst kurze Umlaufszeit von Teilchen im Kern als Argument gegen die Existenz höher organisierten Lebens auf einem Neutronenstern.

Ein sympathischer Zug des Buches ist auch die Einbeziehung menschlicher Aspekte: Thirrings Zusammentreffen mit Einstein, Heisenberg, Pauli, Schrödinger, Elliott Lieb und vielen anderen großen Gelehrten wirkt inmitten von so viel Wissenschaft auflockernd und informativ zugleich. Insbesondere freut uns, dass der bedeutende, aber weit gehend unbekannte österreichische Physiker Fritz Houtermans, bei dem Thirring einige Jahre als Assistent in Bern tätig war, hier seinen gebührenden Platz findet.

Wer seinen Enthusiasmus für die Naturwissenschaften neu beleben, aber auch ihre Geheimnisse erstmalig erschmecken will, ist eingeladen, sich auf das Abenteuer der Lektüre einzulassen. Er wird zwar Gott nicht bewiesen finden, aber - wie der Prophet Jesaja, den der Autor zitiert - den Saum seines Kleides gesehen haben. (Jürgen W. Weil/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17./18 7. 2004)