Paris - Der Auswanderungsappell des israelischen Regierungschefs Ariel Sharon an die französischen Juden wird am Dienstag von zahlreichen Blättern kommentiert:

Le Monde

"Was will Ariel Sharon erreichen? Vielleicht eine größere Zahl von jüdischen Auswanderern aus Frankreich nach Israel. Eine andere Hypothese ist, dass Sharon Europa aus dem politischen Spiel um den Nahen Osten hält, indem er Frankreich disqualifiziert. (...) Die Botschaft des Likud-Chefs könnte lauten wie folgt: Die politische Regelung des Nahost-Konflikts bleibt eine Angelegenheit zwischen Israel und den USA - und Europa bleibt wegen seiner pro-arabischen Parteinahme abgekapselt in der Rolle des Geldgebers."

"Le Télégramme" (Brest):

"Indem er bis zum Überdruss einer falschen Idee anhängt, die bereits in den USA verbreitet ist, will er Frankreichs derzeit fruchtlose Bemühungen im Nahost-Friedensprozess diskreditieren. Da Frankreich seiner traditionellen diplomatischen Linie treu blieb, hat es keinen Zugang mehr zu den israelischen Verantwortlichen (...). In dem Moment, in dem sich Sharon auf die Feier der Heiligen Union mit der Arbeiterpartei vorbereitet, um seinen Trennungsplan durchzusetzen, soll Paris von der Achse Washington-Jerusalem an den Rand gedrängt werden."

"La Croix" (Paris):

"In Frankreich gibt es eine spürbare Zunahme des Antisemitismus, doch engstirnige Menschen vermengen dabei die Zugehörigkeit zu einer Religion mit der Politik des Staates Israel. Juden, Katholiken, Protestanten und Muslime haben in unserem Land wie in allen anderen Ländern auch als verantwortungsbewusste Bürger unterschiedliche Ansichten über den Zustand der Welt. Dies haben die jüdischen Gemeindevertreter in Frankreich gemeint, als sie Sharon sagten, er hätte lieber schweigen sollen, wenn es ihm wirklich darum gehe, zum Rückgang des Antisemitismus beizutragen".

Süddeutsche Zeitung

"Frankreich ist das Land von Alfred Dreyfus, durch dessen Prozess Theodor Herzl einst die Grundidee des Zionismus fasste, nach der Juden auf Dauer niemals gefahrlos in einer nichtjüdischen Gesellschaft leben könnten. Wenn Israels Premier die französischen Juden aufruft, so schnell wie möglich nach Israel zu übersiedeln, weil in ihrer derzeitigen Heimat 'der wildeste Antisemitismus tobt', so rührt er noch mehr als hundert Jahre später an eine wunde Stelle."

Frankfurter Rundschau

"Frankreich ist offenbar neben Argentinien das einzige Land, aus dem sich Sharon eine größere Einwanderungswelle erhofft, um der demografischen Übermacht der Palästinenser zu begegnen. Seine Äußerung, er werde 'eine Million Juden nach Israel' holen, richte sich an diese beiden Nationen, da die russischen Juden bereits überwiegend emigriert seien und er die US-amerikanischen Juden ausdrücklich nicht zu diesem Schritt auffordere, weil er sie als Unterstützer in den USA benötigt."

de Volkskrant

"Hat Sharon wirklich das friedliche Zusammenleben von Juden und Arabern in Frankreich gefährdet, wie einige behaupten? Das scheint übertrieben zu sein. Die Empfindlichkeit, mit der die Franzosen auf Sharons Worte reagierten, sagt doch vor allem etwas über Frankreich aus. Da die Spannungen zwischen Arabern und Juden gestiegen sind, reagiert Frankreich überempfindlich auf jede Kritik im Bereich Diskrimination und Rassismus."

"Luxemburger Wort":

"Sharon verfolgt mehrere Ziele. Erstens will er Frankreichs Einfluss eindämmen, weil die Pariser Regierung ihm zu pro-palästinensisch erscheint. Zweitens träumt Sharon davon und das hat er oft öffentlich erklärt, eine weitere Million Juden aus aller Welt in Israel anzusiedeln. Doch von wo sollen diese Juden kommen? Aus Russland war die Emigration schon so massiv, dass die exilrussischen Juden in Israel eine eigene politische Partei bilden. Den meisten amerikanischen Juden geht es so gut, dass sie nicht ans Auswandern denken. Bleiben weltweit außerhalb von Israel nur noch zwei große jüdische Gemeinschaften, in Argentinien (etwa 200.000) und in Frankreich (schätzungsweise 600.000). Demnach bietet Frankreich das nächstliegende Reservoir, um Sharons großisraelische Träume zu verwirklichen. Und somit erweist sich Sharons neueste verbale Entgleisung als durchaus wohlüberlegtes Manöver. (...) Fragt sich nur, ob sich viele Juden zum Auswandern in Sharons Bunkerland ermuntern lassen? Wohl kaum. Das weltweit unsicherste Land für Juden ist und bleibt Israel, Schutzwall hin oder her." (APA/dpa)