Aufgebahrte Leiche des ermordeten Engelbert Dollfuß

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Am 25. Juli 1934 morgens wurde der Revierinspektor Johann Dobler, einer der vielen Wiener Polizisten, die auch nach dem Verbot der NSDAP mit dieser sympathisierten, von einem Gesinnungsfreund aus der Kriminalpolizei angerufen, dass in wenigen Stunden der "Aktionsplan" zum Sturz der Regierung Dollfuß realisiert werden sollte.

Dobler, offenbar zwischen seinem Amtseid und seinen politischen Präferenzen hin und her gerissen, beschloss, das nicht seinen Vorgesetzten zu melden, von denen er nicht sicher war, ob sie Nazi wären, sondern das Büro der Vaterländischen Front anzurufen: Er wolle deren Bundesleiter im Café Weghuber beim Volkstheater eine wichtige Mitteilung machen.

Dort nahm man den Anruf offenbar nicht ernst. Nach langem Warten wandte sich Dobler an einen eintretenden höheren Funktionär der Heimwehr und gab diesem sein Geheimnis preis. Der gab die Warnung an andere Stellen weiter, und sie erreichte schließlich den Heimwehrführer Major Emil Fey, den Dollfuß vom Vizekanzler zum Sonderkommissär für Sicherheitsfragen degradiert hatte. Dieser wollte die Nachricht erst überprüfen lassen. Kriminalbeamte wurden ausgeschickt, und man kam zum Schluss, dass in der Tat etwas im Gang sei.

Fey war inzwischen in die Ministerratssitzung gefahren. Die Kriminalbeamten konnten ihn erst dort vom Ernst der Bedrohung informieren. Fey unterrichtete nun zuerst den Kanzler. Dieser verfügte daraufhin sofort, dass die Minister sich in ihre Büros begeben sollten. Nur Fey und der Staatssekretär Carl Karwinsky blieben bei Dollfuß im Kanzleramt. General Wilhelm Zehner erhielt den Auftrag, das Bundesheer in Alarmbereitschaft zu setzen.

Kanzlerauto als Ziel

Der Polizeipräsident Eugen Seydel wurde angewiesen, das Kanzleramt zusätzlich abzusichern. Aber diesen hatte die Nachricht erreicht, dass die illegale SS auf dem Michaelerplatz einen Anschlag auf Dollfuß' Auto vorbereitete; er ließ zunächst diese Örtlichkeit stärker bewachen. Dass die Terroristen wegen des nun in Angriff genommenen Vorhabens, die gesamte Regierung in Geiselhaft zu nehmen, zurückgepfiffen wurden, blieb der Polizei verborgen.

Die SS-Führer Glass und Wächter hatten bereits um 8 Uhr die Alarmbefehle an die Aktionsmannschaften ausgegeben. Sie sollten sich in der Halle des Deutschen Turnvereins in der Siebensterngasse sammeln. An die mehr als 150 Angehörigen der SS-Standarte 89, an wegen ihrer NSDAP-Zugehörigkeit entlassene Bundesheersoldaten, aber auch an aktive Polizisten wurden dort Uniformen und Waffen ausgegeben.

Der Nachrichtendienst der Nazis funktionierte noch schlechter als jener der Polizei: Sie erfuhren nichts davon, dass Dollfuß die anderen Regierungsmitglieder kurz nach 12 Uhr in ihre Ministerien geschickt hatte.

Der von den Nazis als Nachfolger im Kanzleramt ausersehene frühere christlichsoziale steirische Landeshauptmann Anton Rintelen saß bereits, inkognito als "Herr Williams" angemeldet, im Hotel Imperial und wartete auf den Ruf an die Spitze des Staates.

Um 12.45 Uhr - gegenüber dem Aktionsplan verspätet - setzte sich die Kraftwagenkolonne mit den SS-Putschisten in Bewegung. Um 12.53 Uhr waren sie am Ballhausplatz. Die Flügeltüren des Kanzleramtes standen weit offen, weil um diese Zeit die Ehrenwache des Bundesheeres täglich abgelöst wurde. Die Torposten hielten die Uniformierten für die von Karwinsky angeforderte Polizeialarmabteilung.

Die Putschisten verriegelten das Tor, die Wache wurde entwaffnet, und alle Beamten im Haus mussten sich im Hof des Gebäudes unter Bewachung versammeln. Der für die Aktion im Kanzleramt ausersehene Fridolin Glass war aber nicht mehr in das Gebäude gekommen, sondern vom letzten Wagen gesprungen, als eine Kontrolle durch Kriminalbeamte auftauchte. Er erstand in einem Kaufhaus einen neuen Hut und Mantel und begab sich auf den Ballhausplatz, wo bereits die Gegenaktion der Exekutive angelaufen war.

Drei Putschisten, die ehemaligen Heeresangehörigen Paul Hudl, Franz Holzweber und Otto Planetta, führten die Durchsuchung der Stockwerke des Gebäudes. Planetta stürmte mit seinen Leuten über die Stiegen zu den Räumen im ersten Stock, wo der Ministerrat zu tagen pflegte. Unmittelbar zuvor hatte Staatssekretär Karwinsky den Bundeskanzler in einen anderen Stock bringen wollen, als der Portier Eduard Hedvicek Dollfuß am Arm packte, um ihn über eine Wendeltreppe ins Staatsarchiv in Sicherheit bringen, weil zu vermuten war, dass die Putschisten den Nebenausgang zum Minoritenplatz noch nicht besetzt hatten.

In diesem Augenblick, kurz nach 13 Uhr, stießen sie mit den Aufrührern, angeführt von Planetta mit der Pistole im Anschlag, zusammen. Kurz nach dem Ruf "Hände hoch!" feuerte Planetta auf die ihm entgegenkommenden Männer. Dollfuß stürzte getroffen nieder. (Später, bei der Obduktion des Leichnams des Kanzlers, ergab sich, dass noch ein zweiter Schuss Dollfuß getroffen hatte. Wer ihn abgegeben hat, konnte nie geklärt werden.) Der offensichtlich schwer verwundete, stark blutende Kanzler wurde nach einiger Zeit, in der ein Notverband aufgetrieben worden war, auf eine Stilbank gelegt.

Die Gerichtsmediziner stellten später fest, dass Dollfuß infolge einer Durchschussverletzung der Hals- und Brustgegend durch Verblutung gestorben ist. Laut Planettas Aussage wurde die Frage, ob sich im Haus ein Arzt befinde, verneint. Der Wunsch des sterbenden Dollfuß, einen Priester zu holen, wurde von den Putschisten abgelehnt.

Um die gleiche Zeit drang eine Gruppe von Putschisten unter Führung von Johann Domes in das Funkhaus der Ravag in der Johannesgasse ein. Der Posten am Eingang wurde niedergeschossen. Der Radiosprecher wurde gezwungen, die Botschaft der Putschisten zu verlesen. Wer Radio hörte, vernahm: "Die Regierung Dollfuß ist zurückgetreten. Dr. Rintelen hat die Regierungsgeschäfte übernommen."

Die Polizei reagierte hier schnell. Schon eine Viertelstunde nach dem Überfall wurden die Fenster mit Maschinengewehren beschossen, Handgranaten wurden geworfen, und die Polizei stürmte das Gebäude. Die Aufrührer ergaben sich und wurden verhaftet, vier Menschen - ein Putschist, ein Polizist, ein Ravag-Angestellter und ein Schauspieler - kamen ums Leben. Die Sendeeinrichtungen waren schwer beschädigt, sodass zunächst mehrere Stunden über Radio Wien nur Musik zu hören war.

Inzwischen hatte Bundespräsident Wilhelm Miklas, der auf Urlaub in Kärnten weilte und auf den zwar ein Anschlag im Putschplan vorgesehen war, aber nicht ausgeführt wurde, den im Verteidigungsministerium zusammengetretenen Rumpfministerrat beauftragt, alle Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung und zur Sicherung von Staat und Regierung zu treffen. Justiz- und Unterrichtsminister Kurt Schuschnigg wurde mit der provisorischen Leitung der Regierungsgeschäfte betraut. Auf seine Weisung hatten Einheiten der Polizei und des Bundesheeres das Kanzleramt umstellt.

Die Putschisten holten Emil Fey zu dem tödlich getroffenen Dollfuß. Fey war von ihnen ausersehen, Verhandlungen mit der Regierung aufzunehmen. Er befand sich zweifellos unter Druck, andererseits soll ihm von den Putschisten angeboten worden sein, in eine Regierung Rintelen als Sicherheitsminister einzutreten. Die zwielichtige Rolle Feys blieb ungeklärt; gerüchteweise wurde er sogar mit dem zweiten Schuss auf Dollfuß in Zusammenhang gebracht (Fey beging im 16. März 1938 mit seiner Familie Selbstmord). Laut Bericht des Vizepolizeipräsidenten Michael Skubl wurde er von Fey um 16.35 Uhr angerufen, und dieser teilte ihm mit, dass Dollfuß wünsche, jedes weitere Blutvergießen zu vermeiden; er habe seine Funktion als Bundeskanzler niedergelegt und übertrage die Bildung der neuen Regierung dem Gesandten Rintelen. Dies solle über das Radio verlautbart werden.

Skubl leitete diese Mitteilung Feys an Schuschnigg weiter, dieser erklärte sofort, die Erklärung werde keinesfalls veröffentlicht. Rintelen wurde auf Veranlassung Schuschniggs aus dem Hotel Imperial geholt und in einem Zimmer des Verteidigungsministeriums eingesperrt. Später sprach Fey auch mit Staatssekretär Neustädter-Stürmer, wurde aber von diesem darauf hingewiesen, dass Miklas keineswegs Rintelen, sondern Schuschnigg provisorisch mit der Führung der Geschäfte betraut habe.

Um 16.15 Uhr erlag Engelbert Dollfuß seinen schweren Verletzungen. Er hatte Fey zuvor noch gebeten, Mussolini zu ersuchen, sich seiner Frau und seiner Kinder anzunehmen. Schuschnigg und die anderen Minister hatten inzwischen mit dem Polizeipräsidenten beraten, wie die Gefangenen im Kanzleramt ohne Gefährdung ihres Lebens befreit werden könnten. In diesem Zusammenhang war die Frage, wie es um den - nach Angaben Feys schwer verletzten - Bundeskanzler stand, entscheidend.

Gegen 17.30 Uhr begaben sich Neustädter-Stürmer und General Zehner auf den Ballhausplatz, um mit den Offizieren von Polizei, Heer und Heimatschutz über das weitere Vorgehen zu beraten. Auf dem Balkon des Kanzleramts erschien dann Emil Fey, begleitet von bewaffneten Putschisten. Er wollte eine Mitteilung machen, wurde aber von Neustädter-Stürmer sofort unterbrochen. Dieser erklärte: "Ich bin von der Regierung beauftragt, den Aufständischen ein Ultimatum zu stellen. Wenn das Gebäude binnen zwanzig Minuten geräumt wird, so wird den Aufrührern freier Abzug an die deutsche Grenze gewährt, sonst lasse ich das Bundeskanzleramt mit Waffengewalt stürmen."

Vor Ablauf der gesetzten Frist kam Fey erneut auf den Balkon, um im Auftrag der Putschisten Einzelheiten für das freie Geleit - Abtransport unter militärischer Bedeckung - auszuhandeln. "Ich verbürgte mich mit meinem Soldatenwort, dass das freie Geleit eingehalten würde", berichtete Neustädter-Stürmer später. Die Frist für die Kapitulation der Aufrührer wurde verlängert. Sie ließen Fey frei. Inzwischen war der deutsche Gesandte Kurt Rieth auf dem Ballhausplatz erschienen und fragte, ob seine Intervention gewünscht sei - ein Hinweis darauf, dass Berlin sehr wohl von den Putschplänen wusste. Die Einmischung des Gesandten wurde abgelehnt.

Um die Frage, wann die Regierung die Mitteilung vom Tode des Bundeskanzlers erhielt, gibt es Ungereimtheiten. Schuschnigg soll bei den Beratungen dem freien Abzug der Putschisten unter der Bedingung zugestimmt haben, dass kein Blut geflossen sei.

Auf dem Ballhausplatz wusste man schon nach 17 Uhr, dass Dollfuß tot war; ein Sektionsrat teilte dies dem Ministerrat mit. Trotzdem wurde den Putschisten freier Abzug zugesagt.

Aus dem Protokoll des Ministerrats am darauf folgenden Tag geht hervor, dass für Schuschnigg feststand, keinesfalls die Rädelsführer ohne Bestrafung davonkommen zu lassen. Auch Vizekanzler Starhemberg, der von einem Urlaub am Lido zurückgeflogen war, sagte, dass eine Regierung, die in diesem Fall zu mild vorgehe, sich nicht halten könnte und auch im Ausland kein Verständnis finden würde. Man solle betonen, dass das freie Geleit zugesagt wurde, um den Eingeschlossenen das Leben zu retten. In dem von der österreichischen Regierung über die Vorgänge herausgegebenen "Braunbuch" wurde dann behauptet, dass die Zusage des freien Abzugs der Putschisten erst widerrufen wurde, als der Regierung die Ermordung des Kanzlers bekannt geworden war.

Kurz nach 19 Uhr gaben die Putschisten auf. Die Gefangenen wurden freigelassen, und die 154 Aufrührer wurden auf Lastwagen verladen und in die Marokkanerkaserne gebracht. Ihnen wurde mitgeteilt, dass Dolfuß' Tod die Sachlage verändert habe und ihre Freilassung zumindest nicht infrage komme, ehe sich der Mörder des Kanzlers melde.

Geständiger Täter

Beim Polizeiverhör gestand Otto Planetta, dass er auf Dollfuß geschossen habe, behauptete aber, dies sei geschehen, weil jener sich gewehrt habe; der Plan der Putschisten sei doch gewesen, dass Dollfuß in Geiselhaft sein Amt an Rintelen abgebe. Angesichts des Faktums, dass andere SSler mit dem Plan eines Handgranatenanschlags auf Dollfuß' Auto durchaus an Mord dachten, erscheinen Planettas Aussagen eher als Versuch, sich vor der Bestrafung zu retten.

Die Regierung berief einen Militärgerichtshof ein, der die Rädelsführer des Putschs aburteilen sollte. Die früheren Bundesheersoldaten Planetta und Holzweber, der Anführer des Überfalls auf Ravag Domes und fünf weitere Putschisten, die noch im aktiven Dienstverhältnis zum Bund standen, wurden wegen Hochverrats, Planetta dazu wegen Mordes, zum Tod verurteilt und am 31. Juli gehenkt. Gegen Anton Rintelen wurde ein besonderes Verfahren eingeleitet, und sein Verhalten hätte ebenfalls zu einem Todesurteil gereicht, doch der Heimwehrführer und Justizminister Berger-Waldenegg wies den Staatsanwalt an, nur "lebenslang" zu beantragen. Weiters wurden auch über etliche Putschisten lebenslange Haftstrafen verhängt, die meisten anderen wurden in das Anhaltelager Wöllersdorf eingeliefert.

Den SS-Führern, die den Putschplan ausgeheckt hatten und die sich beim Überfall auf das Kanzleramt außerhalb des Gebäudes aufhielten - Glass, Wächter und Weydenhammer -, gelang die Flucht in Hitlers Reich. Für die SA in Österreichs Bundesländern allerdings war die - falsche - Mitteilung, dass der Nationalsozialist Anton Rintelen neuer Kanzler sei, das Signal zum bewaffneten Aufstand. (Manfred Scheuch/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24./25. 7. 2004)