Sie ist erstens rund und zweitens nicht dort wo sie sein sollte: Die Sirk-Ecke, die Karl Kraus in den "Letzten Tagen der Menschheit" beschrieb. Roman David-Freihsl besuchten die Kreuzung, an der man sich vor 90 Jahren dem Hurra-Patriotismus hingab.
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Wien - Zum einen ist sie ausgesprochen rund, die "Ecke", hinter der sich das Restaurant Sirk befindet. Und zum anderen machten die Regieanweisungen in den "Letzten Tagen der Menschheit" von Karl Kraus stutzig: "Wien. Ringstraßenkorso. Sirk-Ecke", steht gleich vor der ersten Szene. Doch zwischen der Ringstraße vorne und dem Sirk hinten ist ein ganzer Häuserblock. Der, in dem sich das Hotel Bristol befindet.

"Ja, ja, das ursprüngliche Sirk war früher vorne an der Rangstraßenecke, wo jetzt der Anker ist", weiß der Kellner im Lokal Bescheid. Restaurant war es damals auch keines, sondern ein Lederwarengeschäft. Jenes wurde von August Sirk betrieben, der sogar ein K. u. K. Dekret erhielt, wonach er diesen Standort "Sirk-Ecke" benennen durfte.

Beliebter Treffpunkt

Ein ausgesprochen beliebter Treffpunkt war das. Am Sirk-Eck verabredete man sich, um auf dem Ringstraßenkorso zum Schwarzenbergplatz und retour zu promenieren.

Heute erinnert kaum noch etwas daran, was sich hier am Tag genau vor 90 Jahren abgespielt hat. Nach der Ermordung des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie in Sarajewo, während das Ultimatum gegen Serbien lief und beiderseits schon Truppen mobilisiert wurden.

Im Jahr 2004 strömen immer noch die Massen hin und her. Menschen aller Herren und Damen Länder - dass man im Stimmengewirr auch Englisch, Französisch, Serbisch, Russisch und Italienisch hören kann, stört heute hier keinen mehr.

"Hauts es!"

Vor 90 Jahren hätt's das hier jedenfalls nicht gegeben, wie man bei Karl Kraus nachlesen kann. "Nieda mit Serbien!", gibt er den Hurra-Patriotsmus dieser Tage wieder. Und ein paar Szenen - und Wochen des Jahres 1914 - später: "Serbien muss sterbien", "jeder Russ - an Schuss", "jeder Franzos - an Stoss", "jeder Britt - an Tritt." Da hieß es schnell: "Zwa Franzosen! Reden S' deutsch! Hauts es! Mir san in Wean!"

Doch hat sich die Wiener Mentalität in diesen 90 Jahren wirklich so stark verändert? Prostituierte und "Pülcher" werden auch heute noch in der Kärntnerstraße vorbeikommen, und es würde nicht verwundern, würden die sich beschimpfen: "Sie wolln a Padriodin sein? A Hur san S', mirken S' Ihnen das!" - "A Taschelzieher san S'!" - "A so a Schlampen!"

Das Sisi-Häferl

Die Schlagzeilen der "Extraausgabee" werden 2004 an der originalen Sirk-Ecke nicht mehr lautstark ausgerufen. Die Zeitungen stecken am Kiosk. Der Standler bietet auch Kaiserzeit-sentimentale Souvenirs an. Da prangt der Franzl auf dem Löffel und die Sisi auf dem Häferl. Die Monarchie ist jetzt ein Geschäft und ob Franzosen, Italiener, Russen oder Engländer hier einkaufen, ist egal. (Roman David-Freihsl, DER STANDARD Printausgabe 24/25.7.2004)