Lance Armstrong ist ein Sklave und ein Held zugleich, er ist Diener der Göttin Tour, und er ist ihr Meister. Die offene, in einem Buch ("L.A. Confidential") über ihn auch öffentlich diskutierte Frage, ob er sich der Hilfe unerlaubter Substanzen bediene, komplettiert seine Aura. Er ist nie des Dopings überführt worden, seine Kraft kommt aus dem rätselhaften Dunkel seiner Vergangenheit, das Strahlende der Gegenwart, der sechste Toursieg, das auch in der äußersten Anstrengung unbewegte Gesicht inmitten einer Schar von schmerzhaft grimassierenden Gegnern ist allerbester Stoff für einen Mythos.

Armstrong ist wie die von ihrem Exgatten des Dopings bezichtigte dreifache Olympiasiegerin Marion Jones zugleich Opfer und Profiteur. Veranstaltungen wie die Tour pressen aus den Teilnehmern mehr heraus, als drin ist. Wie Rübezahl Wasser aus dem Stein. Um sie für die Massen attraktiv zu machen, werden Spitzensportler systematisch über das "menschliche Maß" hinaus getrieben. Der Rekord, das noch nie Dagewesene, das Einzigartige, Unwiederholbare, all diese im Sportwesen angelegten Termini werden aufgeladen, um als Verkaufsargumente auf dem öffentlichen Markt zu taugen.

Diese Entwicklung begann vor ungefähr achtzig Jahren. In Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" finden sich erste gültige Reflexionen über den Sport. Musil macht in den 20er-Jahren den Zeitenwandel, der durch den Einbruch des Sports in das bürgerliche Zeitalter stattfand, an der Beschreibung eines Rennpferdes fest, das mit der zuvor nur Malern und anderen Künstlern vorbehaltenen Zuschreibung des Genialen gewürdigt wurde.

Seither wurde der Sport integraler Bestandteil eines Mediencocktails, der den spannungsloser werdenden Alltag der Massen mit Glanz und Gesprächsstoff versorgt. Die Distanz der Intellektuellen, die bis in die 70er-Jahre Mode war, verhinderte das Eindringen des Sports in die deutschsprachige Literatur. In der angelsächsischen Welt mit ihrer weniger scharf durchgezogenen Trennung von so genannter "hoher" und "trivialer" Schreibe finden sich ungleich mehr gültige Bearbeitungen des Themas, von Nick Hornby ("Fever Pitch") über Richard Ford ("Der Sportreporter") bis zu Bill Buford ("Among The Thugs"). Die Massenmedien, die Tageszeitungen und die Fernsehsender aber verwendeten den Sport fast seit der Jahrhundertwende als Quoten- und Auflagenbringer. Die erst rein beschreibende Darstellung wandelte sich mit der in der Zwischenkriegszeit rasch zunehmenden Attraktivität des Fußballs für die urbanen Massen zur Heldenmaschine. Die Helden sind der Kern des Faszinosums Sport, auch wenn sie wie im Fall der Tour de France austauschbar sein mögen.

Diese Gefühlsbindung knüpft am romantischen Ideal des frühen Sports an, das vom fairen Wettkampf sauberer Sportler schwärmte. Der Rekordschwimmer sei vom Teich- und Flussschwimmer nur durch ein Höchstmaß an Übung und Disziplin getrennt, schrieb Alfred Polgar, und daher könne der normale Mensch sich im Spitzensportler auch wiedererkennen.

Der Begriff des reproduktiven Genies, der auf Fußballer und Philharmoniker gleichermaßen anwendbar ist, und das Erlebnis des singulären Spiels und Konzertes, hebt den Sportstar dann noch in eine Sphäre, in die sich der Konsument hineinträumt. Was Doping, also verwerflich und strafbar ist, steht auf der Dopingliste. Die Moral ist eine Konvention, die Chancengleichheit zum Ziel hat.

Die Aufregung um Dopingvergehen ist so verstanden eine Strategie der Entschuldigung dafür, Vorbilder anzuhimmeln, die roboterhaft strampelnd ein wunderschönes Land zur schönsten Jahreszeit durchqueren, ohne das Links und Rechts und schon gar das hinter ihm Liegende zu würdigen. Armstrong und seine Art sind mythologische Helden, oder sie sind nichts, dazu ist den Veranstaltern und den Sportlern jedes Mittel recht und, vergleicht man es mit dem erzielbaren Gewinn und Ruhm, billig. (Johann Skocek, DER STANDARD, Printausgabe, Montag, 26. Juli 2004)