oder: Der lange Arm Haiders - Begegnung eines Eidgenossen mit einem EU-Werte-Wart



Linus Reichlin

Ich las in der Sonntagszeitung die Schlagzeile "Hirsch auf der Flucht erschossen" - und war politisch geschockt. "Es fängt also wieder an!" dachte ich. Wieder öffnen brutale Zoowärter um Mitternacht die Tür zum Hirschgehege, rufen: "He, Hirsch, geh mal ein bisschen spazieren!" Der Hirsch ist natürlich misstrauisch. "Aber ich darf doch hier nicht raus!", röhrt er. "Heute schon", knurren die Wärter, "deine Mutter ist zu Besuch!" Und kaum hat der Hirsch einen Huf aus dem Gehege gesetzt - peng!

Erschüttert schrieb ich einen Brief an die EU-Wertegemeinschaft: "Dass dieses Verbrechen in der Schweiz geschehen ist, zeigt, wie furchtbar lang der Arm von Jörg Haider schon ist. Greifen Sie ein!"

Zwei Tage später die Antwort: "Die EU-Wertegemeinschaft hat soeben beschlossen, dass Menschenrechte auch für Hirschprodukte gelten. Aber leider haben wir im Augenblick keine intelligenten Luft-Boden-Raketen mehr (Milosevic!). Schicken aber Kommissar."

Und er kam! Ein netter Herr Reutenbeq aus Brüssel, Oberwerteschutzführer der humanitären Sonderstaffel "Regenwald". "Wie alle Rechtsextremen", erklärte mir Reutenbeq, "hasst auch Haider die Hirsche, diese Symbole einer multikulturellen Gesellschaft." Zum Beispiel habe Haider - auch wenn er das heute abstreite - in einer seiner Reden deutlich gesagt: "Kann mal jemand das Mikrofon einschalten?"

"Und was genau", fragte ich, "hat er damit gemeint?" Oberwerteschutzführer Reutenbeq schenkte mir einen Blick des Mitleids. "Mit Mikrofon" sagte er langsam, "meinte er natürlich Hirsche, und mit einschalten abknallen, was denn sonst. Und nun zu Ihnen." "Zu mir?" - ich hatte schlagartig einen trockenen Mund. "Sie haben da ein nettes Büchergestell", sagte Reutenbeq leise, "aber leider sehe ich kein einziges Buch von Günter Grass, Joschka Fischer oder anderen von der EU-Wertegemeinschaft empfohlenen Autoren."

"Die sind mir von Neonazis gestohlen worden", log ich, "aber ich werde gleich morgen in die Buch ..." "Und das hier", flüsterte Reutenbeq und zeigt mit einer Art Reitpeitsche auf mein CD-Regal, "ist eine interessante Sammlung gewaltverherrlichender Computerspiele, in denen die Gleichberechtigung der Frau nicht die geringste Rolle spielt, habe ich Recht?"

"Kennen Sie Lara Croft?" japste ich, aber der Oberwerteschutzführer hatte andere Sorgen. "Die EU-Wertegemeinschaft", schrie er mit rollendem R, "wird das internationale Rassistentum und dessen sexistische Lakaien mit Stumpf und Stiel ausrotten! Und in Ihrer Wohnung fangen wir an!"

Auf Reutenbeqs Befehl musste ich alles, was Schwarzafrikaner beleidigen könnte, aus der Küche entfernen, konkret: eine Packung Mohrenköpfe sowie einen Bund extragroßer Bio-Rüebli. Dann ersetzte Reutenbeq eigenhändig mein frauenverachtendes Sharon-Stone-Poster durch eins von Tony Blair.

Im Garten unten gab's dann noch einen kleinen Drill. "Welche Werte sind die einzig richtigen Werte?", brüllte Reutenbeq. "Sir", rief ich, "die Werte der EU-Wertegemeinschaft, Sir!" "Und wer sind unsere Feinde?" "Sir, alle, die nicht so tolerant sind wie wir, Sir!" "Abtreten!"

Linus Reichlin ist Kolumnist der Schweizer "Weltwoche".