Foto: Süddeutsche Bibliothek
Die Reise beginnt mit einem weißen Fleck auf der Landkarte. Neun Jahre alt ist der kleine Jozéf, als er sich mithilfe von Atlanten aus dem russischen Exil fortträumt, in das es die Familie Korzeniowski 1862 nach ihrer importunen Unterstützung für die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen verschlagen hat. Mit dem Finger zeigt er auf die noch nicht vermessene Leere im Herzen Afrikas: "Da will ich hin!"

Jahre später ist er tatsächlich dort. Von Wologda in Nordrussland zum oberen Flusslauf des Kongos: Es ist eine Reise mit vielen Umwegen. Zunächst wird Jozéf Korzeniowski nach dem frühen Tod der Eltern zum Onkel in der Schweiz geschickt, dann heuert er auf französischen Schiffen an, schmuggelt Waffen für den Karlistenaufstand in Spanien, lernt als 21-Jähriger Englisch, dient sich hoch, bis er 1890 das Kommando für eine Kongofahrt erhält.

Es wird zum Himmelfahrtskommando, auf dem er dem Tod ins Angesicht blickt. Und dennoch kehrt er zu den überwucherten Wasserarmen zurück und reist ein zweites Mal den Fluss hinauf - diesmal, neun Jahre später, in Gedanken. In kühler, subtil symbolhafter Prosa lässt Joseph Conrad, wie sich Korzeniowski nach seiner Einbürgerung in Großbritannien nennt, den Seefahrer Marlow von seiner Expedition ins Reich der Finsternis erzählen. Während die Matrosen bei London vor Anker liegen, folgen sie dem Erzählstrom Marlows die Themse hinunter, hinaus aufs Meer, hinein in den Urwald, vom Kopf zum dunkel pulsierenden Herzen des Kolonialismus, das das weiße Gold Elfenbein in die Wasserwege der Seefahrermacht wie in deren imaginäre Arterien pumpt.

Am Ende wartet der mysteriöse, sich ganz der Kontrolle der Handelsgesellschaft entziehende Elfenbeinhändler Kurtz schon auf Marlow, der ihn zurück in die zivilisierte Welt holen soll. Marlows Reise ist tatsächlich eine hinaus aus der Zivilisation. Sie führt ihn weiter als ins düstere Zentrum der Kolonialherrschaft, sie führt ihn, den zivilisierten Menschen, in die barbarische Mitte seiner selbst.

Der Urwald wird hier zur Seelenlandschaft, zum undurchdringlichen Dickicht archaischer Begierden. Herz der Finsternis, ein Jahr vor Freuds Traumdeutung von 1900 erschienen, wirkt wie das literarische Erwachen des Unbewussten. Es ist ein grauenvolles Buch im Wortsinn: Das Grauen fällt den Leser an wie ein Raubtier aus dem Unterholz. Und das Schlimmste ist: Jeder trägt diesen Urwald in sich.

Kurtz, dieser Wahnsinnige, der mitten im Dschungel eine Schreckensherrschaft errichtet hat, der sich vergöttern lässt und Menschenopfer verlangt, wirkt nicht nur auf Marlow unwiderstehlich faszinierend, weil er die dunklen, tabuisierten Triebe auslebt, die zum Menschen gehören wie ein Schatten, weil er foltert, weil er tötet, weil er sich anbeten lässt.

Für Chinua Achebe war Conrad "a bloody racist". Schlimmer kann man ihn nicht missverstehen. Seine Novelle zeigt, dass das Wilde in uns allen wohnt, unabhängig von unserer Herkunft, dass unter dem lichten Kleid der Zivilisation allenthalben das schwarze Herz der Barbarei schlägt. Am Ende bringen sie Kurtz auf das Schiff, um ihn aus seinem Größenwahn zu reißen - ein Versuch, der scheitern muss.

Doch die Reise ist damit noch nicht zu Ende. Die des Lesers beginnt erst: die Reise in eine unruhige Nacht mit dunklen Träumen, die Reise ins Herz der eigenen Finsternis. (DER STANDARD, Printausgabe, 31.7./1.8.2004)