Wer aber glaubt, die Diskussion über die Rechtschreibreform sei, ähnlich Nessie, dem Ungeheuer im schottischen Loch Ness, nur ein Füller für das mediale Sommerloch, der irre sich gewaltig, attestiert der Wiener Psychologe Alfred Pritz, ehemaliger Präsident des Weltverbandes der Psychotherapie. Vielmehr, diagnostiziert der Analytiker, sei der Rechtschreibstreit die Nebenfront eines Krieges, den der Mensch und die Gesellschaft seit jeher mit sich selbst führten: "die Befreiung aus dem Herrschafts- und Machtbereich" von Obrigkeiten im "Spannungsfeld zwischen Ordnung und Anarchie".
In freien Gesellschaften wie in Deutschland und Österreich werde der Mensch mehr über Formales gesteuert als über Inhalte und Werte. Auf die aktuelle Diskussion bezogen: Aufgrund der Presse- und Meinungsfreiheit sei es egal, was wer schreibt, mit den Rechtschreibregeln werde jedoch festgelegt, wie. "Eine Beschränkung der Freiheit", die laut Pritz im Widerspruch zu einer liberalen Geisteshaltung steht. Nach Ansicht des Psychogen sei es auch nicht verwunderlich, dass der "Proteststurm gegen die formale Bevormundung" ausgerechnet in Deutschland losgebrochen ist, sich Österreich in dieser Diskussion vergleichsweise müde zeige: Die Bundesrepublik sei auf ihrem Weg zu einer Zivilgesellschaft, in der die einzelnen Bürger wesentlich mehr Verantwortung für sich und die Gemeinschaft tragen, weiter als Österreich. "Bei uns herrscht entweder ein starker Obrigkeitsglaube, oder den Leuten ist vieles einfach wurscht." Tatsächlich kam eine große Studie der Universität Innsbruck vor einigen Jahren zum Schluss, dass das Gros der österreichischen Bevölkerung stark autoritätshörig ist.