Das Getriebe der Chicagoer Fleischbörse lärmt und bebt: Angesichts des Elends erstarrt das Heilsarmee- mädchen Johanna Dark (Àurea Márquez, sitzend re.).

Foto: Young Directors Project
Mit Àlex Rigolas katalanischer Interpretation von Brechts "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" landet das "Young Directors Project" seinen ersten Erfolg im Salzburger "republic".


Salzburg - Der Kapitalismus, so sein leidenschaftlicher Gegner Bertolt Brecht, produziere in gesetzmäßiger Aufeinanderfolge Prosperitätsphasen und Krisen. Schlimmer noch: Das Wohlergehen der einen, die "oben sind", gründe erst auf dem Elend der rücksichtslos Ausgebeuteten.

Was Brecht 1929/30 als Klippschüler von Karl Marx in ein betörend vielstimmiges, verwirrendes Stück umgoss, "Die Heilige Johanna der Schlachthöfe", schmiegt sich umso verheißungsvoller an unsere Wirklichkeit an. Die schleichende Entwertung der Lohnarbeit, das Wuchern mit den Pfunden ungedeckter Kapitalien, die schmachvolle Entblößung der sozialen Sicherungssysteme: Diese und verwandte Phänomene gehen auf im zusehends sorgenvollen Geschwätz über Globalisierungsfolgen und deren Unumkehrbarkeit. Die Ökonomie unserer Tage darf sich rühmen, "naturwüchsig" und somit sakrosankt zu sein.

Wenn man daher Brechts Paraphrase auf Schillers "Jungfrau von Orléans" heute noch goutiert, so nicht deswegen, weil sie Börsenvorgänge von anno Schnee im Krisen-Diagramm fahrig nachzeichnet.

Man muss schon das Aufrührerische und Chaotische dieser Scharteke hart anpacken: Den vielgestaltigen Text vom Heilsarmeemädchen Johanna Dark aufsaugen, das auf den Schlachthöfen Chicagos erst Trost spendet, um darauf selbst ganz trostlos zu werden und im allgemeinen Elend der Arbeiter an den Wurstkesseln zur Heiligenlegende verklärt zu sein. Man muss diesem Stück schnoddrig kommen. So, wie es das katalanische "Teatre Lliure" ganz famos im Salzburger "republic" tut.

Ohne falsche Scham

Denn die Gruppe aus Barcelona entsinnt sich des ursprünglichen Agitationszusammenhangs, ohne sich an die gelehrte Scholastik des epischen Theaters panisch zu klammern. Sie reduziert das falsche "Königsdrama" des Fleischmagnaten Bierpont Mauler (Pere Arquillué) auf ein dröhnendes Oratorium der Unruhe, die hinter einem Wald aus Logos und Bildern, mit denen die geschäftige Wirklichkeit verstellt ist, schwärt und gedeiht.

Mauler ist ein Manager im feinen Tuch: ein weicher Spielball eigener Wirtschaftsspiellaunen, der aus dem Fleischgeschäft (scheinbar) aussteigt, weil er keinen Schlachtochsen leiden sehen kann, und doch seine Interessen rücksichtslos vorantreibt - als überschnappender Fädenzieher, mit der grazilen Sorge eines Feldforschers, der zwischen Glasschaukasten und Plastikkuh wie ein Dividendenträumer versonnen durch die Nacht irrt.

Die aufgeregte Meute der Packer und Börsenbieter agiert in der Vitrine und trägt weiße Hemden. Aus diesen schälen sich Tänzer heraus, die in einem Ballett der Verrenkungen vom deformierenden Einwirken unleidlicher Verhältnisse auf normierte Körper und gehärtete Sozialpanzer erzählen.

Natürlich kann man Àlex Rigolas Produktion gerade das "Zeitgemäße" ihrer Mittel vorwerfen. Zur Illustration des Wölfischen unter den Menschen wird ein Song der "Black Eyed Peas" gegeben; Livemusik-Lärm dröhnt im Quartier der Heilsarmee, die Johanna (Àurea Márquez), ein burschikoses H&M-Mädchen, verstößt, weil sie die Schächer aus dem Tempel des Herren vertreibt. Arbeiter, die den Generalstreik organisieren, treten am Stand in die Pedale. Zwischen Videoclips und deutschen Übertiteln zuckt die rote Laufschrift der Wirtschaftsmeldungen: Fusionslyrik, die besser zu Brechts hintersinniger Poesie passt als jeder Versuch einer falsch gemeinten "Werktreue".

Ein prächtiger Abend: Er zerrt aus Brechts Stück die Knochen hervor und wirft sie dem Publikum - es reagierte irritiert - an den Kopf. Und plötzlich hat "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" sogar mit dem grausamen Theater des Antonin Artaud zu tun. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13. 8. 2004)