Im Spiel "Wer nützt wen aus?" glaubt wohl nur Herr Schüssel selbst, dass er der Sieger ist. Demokraten haben seit 1945 immer wieder ein hervorragendes Wahlergebnis eines extremen Leaders beklagt. Was jedoch noch nie zuvor geschah, ist, dass dieser an die Macht gelangt durch das Bündnis der Rechten mit der extremen Rechten, das den Wiener Extremisten die Hälfte der Ministerien in die Hände spielt. Dieses neue Kräfteverhältnis stellt einen "Vertragsbruch" Österreichs dar (Jacques Chirac). In genau welchen - nicht ausformulierten - Punkten hier gegen ein ungeschriebenes europäisches Gesetz verstoßen wird, muss allerdings erst erläutert werden.

Haider ist nicht Hitler

Haider ist nicht Hitler. Das wohlhabende Österreich erinnert in keiner Weise an das krisengeschüttelte Deutschland der Weimarer Republik. Haider gibt sich kaum als Neuausgabe des Führers, ihm genügt es, nichts von diesem zu wissen. In seinen Augen hat der Zweite Weltkrieg nicht stattgefunden. Die Geschichte eines Mannes und einer Partei, die zum Tod von 50 Millionen Menschen geführt hat, hat er verdrängt. Es handelt sich nur noch um einen banalen Konflikt, an dem alle Beteiligten gleichermaßen schuld sind, in dem Churchill die Rolle des Hauptverbrechers innehat. Für Haiders Zwecke sind weder Fackelzüge noch Brutalitäten im Gleichschritt nötig, man braucht nur zu denken, zu reden und zu handeln, als ob Europa zwischen 1930 und 1940 nichts Außergewöhnliches erlebt hätte. Eben diese Gedächtnislücke zeichnet die schweigende Mehrheit der Österreicher aus, die das Duo Schüssel-Haider absegnet.

Die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft dachten anders. Sie verband dieselbe Abscheu, für sie war Hitler ein Lehrer, der lehrt, was nicht sein soll, sein Beispiel machte die Abwege sichtbar, auf die kulturell hoch entwickelte Länder und Gesellschaften, obschon aufgeschlossen und aufgeklärt, geraten können. Die Europäer - Protestanten, Katholiken, Atheisten, Rechte und Linke - einigten sich nicht aus einer gemeinsamen Überzeugung heraus, sondern aus einer gemeinsamen Angst heraus. Die neue europäische Gemeinschaft, die die Schlachtfelder der jüngsten Vergangenheit hinter sich, die Schrecken der Sowjetdiktatur nebenan und die katastrophale Erfahrung der letzten Kolonialkriege vor sich hatte, erfand für sich neue Tabus, risikofreie politische Strukturen, Regeln für die Milderung von Konflikten, falls solche nicht zu unterdrücken seien. Eine Gemeinschaft derer, die denselben Gefahren ausgesetzt waren, viel mehr als eine Gemeinschaft im idealen Sinn, die Gespräch und kritische Auseinandersetzung sucht, das war es, was gemeinsame Arbeit und gemeinsamen Widerstand möglich machte. Und genau in diesem Punkt wird Österreich nun vertragsbrüchig.

Als die Österreicher 1938 an das Dritte Reiche angeschlossen wurde, sprachen sie sich in einer Volksabstimmung für dieses aus und verhielten sich weder besser noch schlimmer als die Deutschen. Der Unterschied kam nach dem Krieg: "Die ständige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist typisch für die Deutschen, der Österreicher hat eine andere Mentalität", stellte Haider richtig fest, um sich dann im selben Atemzug über die Entschuldigereiendes einen oder anderen in Bezug auf die düsteren Jahre lustig zu machen. Drei Tage später unterschreibt er ohne mit der Wimper zu zucken das feierliche Reuebekenntnis, das Wien der Welt im Blick auf seine Vergangenheit macht. Er hatte schon vorher klargestellt, dass weder er noch die schweigende Mehrheit einen solchen Wunsch ernst nehme: Man muss "in die Zukunft schauen", was nichts anderes heißen soll, als der Vergangenheit den Rücken zu kehren. Wenn Ihr Reuebekenntnisse haben wollt, die könnt Ihr haben, das kostet mich ein Lächeln.

Selbstentnazifizierung

Die Deutschen haben drei Generationen lang über ihr eigenes Verhalten und das ihrer Angehörigen nachgedacht. Auf die erzwungene Entnazifizierung der Alliierten folgte eine schmerzvolle Selbstentnazifierung, die Familien zerriss und Seelen verwandelte. Was haben wir, unsere Eltern, unsere Großeltern getan? Der Durchschnittsösterreicher hat sich vor solch mentaler Qual gedrückt: Offiziell war sein Land "besetzt" worden, er war also eines der ersten Opfer. Der Österreicher verschloss sich dem Schuldgefühl, das seine Nachbarn quälte, und nahm Urlaub von der Geschichte. "Wir waren erstens unschuldig und zweitens hervorragende", sagt dazu der Autor Peter Turrini angewidert von der unerschütterlichen Fähigkeit seiner Landsleute, davonzulaufen und sich in einem pseudovolkstümlichen und provinziellen Naturzustand zu verschanzen.

Im "Hawaii Mitteleuropas" hat man die Wahnvorstellung, dass Gefahren nur von außen kommen, vom Einwanderer, vom abtrünnigen Künstler, von fremden Mächten, den arroganten Vierzehn, den bösen Armen der ehemaligen Volksrepubliken, von der Globalisierung etc. Haidertum ist kein Hitlertum sondern ein Post-Hitlertum, das mit Verkürzungen arbeitet und immer wieder prähitlerische Vorurteile auffrischt wie Fremdenangst, Rassismen aller Art, Pseudoabstammungslehre, Führerkult, und dies mit der Unschuld von Ahnungslosen, mit der Verantwortungslosigkeit verhätschelter Fratzen.

Drei Gefahren

Drei miteinander verbundene Gefahren - die des Post-Hitlertums, des Neokolonialismus und des Neototalitarismus - lauern. Ergreifen nicht Belgrad und Moskau gegen die "Einmischung" der Vierzehn für Wien Partei? Der Terminkalender stiftet Verwirrung, Rot trifft sich mit Braun, Nationalistisches mit Kommunistischem etc. Haider geht mit Umweltschutz hausieren, Grosnys Schlächter spricht mit Brigitte Bardot vertraulich über seine Liebe zu Hunden. Im Fäulnisgestank der übelsten Vergangenheit muss die Gemeinschaft ihren dreifachen Pakt gegen Faschismus, Stalinismus und Kolonialismus wieder beleben und neu erfinden.

Freiheitsliebe kann man nicht teilen. Sie behauptet sich mit unterschiedlichen, notwendigerweise an die Vielzahl der Rahmenbedingungen angepassten Mitteln, erfordert aber in jedem Fall ständige Wachsamkeit sowie mutige und offene Worte, und das in Moskau wie auch in Wien. Wer sich dazu hinreißen lässt, Putin öffentlich als "Patrioten, der im Namen einer großen Idee für sein Land handelt" zu feiern, wird auch eines Tages nichts mehr gegen Haider einzuwenden haben, der sich ebenfalls als "Patriot" bezeichnet. Wer feige schweigt, wenn Städte und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht werden, sollte sich nicht auf solch edle Prinzipien berufen dürfen. "Scheinheiligkeit" wurde das in einem Leitartikel von Le Monde mit dem Titel "Von Wien nach Grosny" genannt. Ich füge hinzu: Gefahr. Europa täuscht vor, vom Pulverfass östlich unseres Laufgitters nichts zu wissen, wo ein skrupelloser, mörderischer, übermächtiger Staat im Entstehen ist. Churchills Hellsichtigkeit läßt auf sich warten.

Wenn die Union auf diese drei Herausforderungen nicht entsprechend reagiert, läuft sie Gefahr, in eine Ansammlung überheblicher Einzelstaaten nach österreichischem Vorbild zu zerfallen, die sich ängstlich unter den traditionsreichen aber unsicheren Schirm der Vereinigten Staaten flüchten, sobald es düster wird am Horizont. Morgen ist es für viele Tschetschenen zu spät. Und es ist jetzt schon sehr spät für ein demokratisches Europa, das sich in seiner heilen Welt verschanzt.

André Glucksmann (64), ist ein zentraler Vertreter der "Neuen Philosophen" Frankreichs. Übersetzt von Clara Plus. © Le Monde, Paris