Ich weiß, was ich mir erwartet habe, als ich am Freitagmorgen von Wien ins Landesgericht St. Pölten fuhr: den Lokalaugenschein, eine gewisse Unmittelbarkeit der Erfahrung - und ich habe meinen Entschluss nicht bereut. Der (dicht gefüllte) Gerichtssaal als ein ganz besonderer Ort mit unverwechselbaren Ritualen: der Blitzlichtkrieg der Fotografen zu Anfang; die herrliche juristische Spitzfindigkeit, die das Herunterladen der Bilder Besitz nennt und unter Strafe stellt, nicht aber das bloße Betrachten; die gnadenlos bürokratisch-positivistische Sprache des jungen Staatsanwaltes, die genau das zum Verstummen bringt, um das es in diesem Prozess geht: kriminelle Geilheit.

Der 27-jährige Angeklagte, ein polnischer Student. Der sichtlich verstörte blasse junge Mann könnte auch in einem Seminar oder einer Vorlesung von mir sitzen. Seine Hilflosigkeit wird dadurch unterstrichen, dass er auf jedwede professionelle Verteidigung verzichtet hat. Seine Kirche hat ihn in jedem Fall verlassen. Wie er sich dreht und windet, gesteht und widerruft, das ist erbarmungswürdig.

Ruhige, bestimmte Richterin

Der ruhigen, bestimmten Richterin, die nur einmal einen Fauxpas begeht, als sie nicht nur den Besitz von Kinderpornos, sondern auch Homosexualität als solche mit unordentlichem Lebenswandel assoziiert, weiß das genau. Schriftsteller, finde ich, sollten des Öfteren solche psychodramatischen Orte aufsuchen. Die Wirklichkeit ist zuweilen exakter als die literarische Fantasie. Ödön von Horváths dramatische Reportagen, die das einsame Innen einfühlend beredt machen, kommen mir in den Sinn. Pjotr Z. wäre wohl ein Mensch für Horváths Figurenkabinett.

Gespenstisch an dem Prozess sind nicht die Anwesenden, sondern die Abwesenden. Die Bilder, 9000 Pornos, davon 1700 Kinderpornos, bleiben unsichtbar. Das ist vermutlich im Sinne der praktischen Vernunft. Aber damit bleiben die Opfer gesichtslos und stumm, junge Menschen, die für diesen Cocktail aus Sex, Gewalt und Demütigung für ihr Leben gezeichnet sind, ausgeschlossen: Opfer zynischer Zuhälter und Zurichter.

Dass die Zuschauer feige Konsumenten sind, die sich von anderen ihr Privattheater im Kopf vorführen lassen, weiß die Literaturtheorie seit Aristoteles. Von Katharsis freilich keine Spur, nur von einer Gier, die buchstäblich suchtblind ist. Der Blick auf die Akteure, die in erniedrigenden pornografischen Haltungen posieren (müssen), bleibt ausgeblendet. Vielleicht hätte man den jungen Mann dazu verpflichten sollen, sich von einem diesem Betrieb Entronnenen erzählen zu lassen, wie solches Machwerk zustande kommt.

Strafe ist ein Minimum

Bei allem Mitleid, wie es jedem Menschen zukommt: Die Strafe ist ein Minimum. Die Verletzung der Menschenrechte muss nicht nur moralisch, sondern auch juristisch sanktioniert werden, auch wenn vermutlich viele - die sprichwörtlichen braven, biederen Bürger - unbehelligt bleiben. Abwesend sind nämlich die wirklich Schuldigen: Die Produzenten der pornografischen Drogen, die wahren Kinderschänder, gehen straffrei aus. Eine seriöse Firma wie das Suchprogramm Google, die das Herunterladen kinderleicht macht, spielt dabei die Rolle des Hehlers. Warum sind Politik, Justiz und Medien so hilflos in ihrem Kampf gegen die Hersteller solcher Bilder? Weil diese frei im virtuellen Raum flottieren? Weil wir Angst haben, als repressiv zu gelten? Weil auch wir die Bedingungen vergessen, unter denen Pornografie insgesamt zustande kommt?

Auf der imaginären Anklagebank sitzt aber auch die Kirche, jene Äbte und Bischöfe, die es gewusst und jahrelang zugeschaut und geschwiegen haben. Das gilt für die Fälle von sexuellem Missbrauch an Jugendlichen in Stift Geras, die Anfang des Jahres in die Schlagzeilen gerieten, ebenso wie für die Vorkommnisse im Priesterseminar St. Pölten. Dabei geht es nicht nur um die skandalöse Verweigerung von Verantwortung und um jenes systematische Lügen, Heucheln und Verschweigen, das einen "Moralisten" wie Jesus Christus erbleichen ließe. Die - moralische - Schuld der Amtskirche liegt noch ganz woanders: Nach innen versperrt sie den ihr Anvertrauten jeden Zugang zu einer offen gelebten und reflektierten (Homo- oder Hetero)sexualität, nach außen skandalisiert sie die Homosexualität, die in ihrem Wirkungsbereich eine weit verbreitete Praktik zu sein scheint.

Zu den prekärsten Folgen dieses Prozesses gehört, dass diese Haltung der Kirche auf eigentümliche, aber aberwitzige Weise den Versuch der Zivilgesellschaft unterminiert, mit der Homosexualität offen, gerecht und gelassen umzugehen: Die Causa St. Pölten und der Missbrauchskandal in Stift Geras rücken die Homosexualität generell in die Nähe der Pädophilie. Die Pädophilie aber ist, selbst dort, wo sie sich als zartfühlend definiert, in der Zivilgesellschaft nicht deshalb ein Delikt, weil sie homoerotisch ist, sondern weil sie auf Ungleichheit und Abhängigkeit beruht und wehrlose junge Menschen potenziell verletzt.

Die aufgeklärte Gesellschaft sieht sich damit konfrontiert, dass die dunklen, verletzenden Seiten der Sexualität nicht bloß Hirngespinste von de Sade oder der Kirchenväter sind. Eine heikle zweite Aufklärung tut Not. Eine, in der Pornografie im Kopf kathartisch und abschreckend wirkt. (Der Standard, Printausgabe, 16.08.2004)