Bernd Marin widerruft seinen Vorschlag der Schwerarbeiterbegünstigung, die zur Opferkonkurrenz "Wer hat's am schwersten im ganzen Land?" ausartete.

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Ich gestehe freimütig: Mein Vorschlag einer Pensionsbegünstigung von Schwerarbeitern ist völlig gescheitert. Leider zu Recht: Er war zwar gut gemeint, aber nur halb durchdacht, unfertig, allzu ambitioniert, ohne vorher genau zu prüfen, ob die Datenvoraussetzungen rechtzeitig oder überhaupt geschaffen werden könnten. Das hat sich leider als ganz undurchführbar erwiesen.

Doch die Milch ist verschüttet. Schlimmer: Die nun wohl unvermeidbare, halbherzige Umsetzung irgendeines faulen Kompromisses wird kaum Nutzen stiften, aber viel Schaden anrichten, nämlich zusammen mit den bereits eingetretenen "Hackler"- und Invaliditätspensionswellen zu einer Massenfrühpensionslawine bestvertretener Gruppen führen, die meist keine Schwerarbeiter sein werden. Denn wir Österreicher nehmen längst Maß am höchstsubventionierten "Vorruhestand" von Beamten, deren aufreizendes bis "zehn Jahre vor der Pension mit 80 Prozent der Bezüge spazieren gehen" die Bevölkerung derart demoralisiert, dass über sinnvoll beschränkte Schwerarbeiterregeln nicht mehr ruhig geredet werden kann.

Dabei hätte alles so großzügig, einfach und fair sein sollen: Statt der nur 15.000 "Nacht-/Schwerarbeiter" sollten bis höchstens rund 180.000 oder fünf Prozent der Arbeitenden mit den objektiv schwersten Arbeitsbedingungen vorzeitig und gestaffelt begünstigt in Pension gehen können. Jene mit vergleichbar schweren Belastungen und Gesundheitsrisiken wie Invaliditätspensionisten mit berufsbedingt verkürzter Lebenserwartung.

Kompensation

Verfrühte Sterblichkeit wäre auf arbeitsbedingte Risiken wie Unfallgefahren, körperliche Anstrengungen, gesundheitsgefährdende Schadstoffe, Lärm, Schmutz, Stress etc. zu untersuchen, die dadurch erklärte Varianz ein Hinweis auf Überlastungen. Gesundheitliche Beeinträchtigung und Lebensverkürzung, die nicht bereits durch Unfallrenten, Invaliditätspensionen, Geldzulagen, Zeitausgleich oder hohe Einkommen (Spitzensportler, -künstler usw.) entschädigt werden – und nur diese! – sollten kompensiert werden. Nichts als dieser allseits als fair und nötig empfundene soziale Ausgleich für jahrzehntelange, lebensverkürzende Arbeitsbelastung. Gleichsam Leben zurückgeben.

Andere Arbeitsbelastungen müssten im Tarifsystem-System durch "Zeit/Geld zurück" ausgeglichen werden, nicht durch vorzeitigen Pensionsantritt und seine öffentliche Alimentierung. Um sachfremder Interessenkeilerei entgegenzuwirken, sollte die Entscheidung ausschließlich von Fachleuten der Arbeitswissenschaft, -medizin usw. unter Anhörung und Vorschlagsrecht der Sozialpartner, aber nicht in der politischen oder Verbandsarena selbst getroffen werden.

In der Praxis wurden die schlimmsten Befürchtungen durchwegs übertroffen: Es gibt auf Jahre hinaus keinerlei brauchbare Datengrundlagen über vorzeitige Sterblichkeit und ihre Determinanten. Damit allein wird der noble Ansatz zur politischen Schnapsidee. Aller politischer Kuhhandel um Abschlagsprozente versucht sich an einer reinen Fiktion – dem auf lange unauffindbaren "Schwerarbeiter".

Auch alle anderen bisherigen Versuche einer Objektivierung inklusive ergonomischer Punktesysteme sind nicht einmal "handgestrickt", wissenschaftlich und politisch ganz unbrauchbar. Nicht zufällig gibt es daher anderswo nichts Vergleichbares, nur offene Wahlzuckerln für nationale Helden wie Stierkämpfer und Ballerinen oder staatsgefährdend starke Gruppen wie Piloten, Polizisten, Militärs oder Bergleute.

Definition unmöglich

Landeshauptmann Sausgruber hat (nur in diesem einen Punkt) völlig Recht: Eine gerechte Definition von Schwerarbeit ist auf absehbare Zeit unmöglich. Man sollte daher den Vorschlag aufgeben oder zumindest aufschieben – alte "Hackler"-Vorteile gelten ohnedies bis 2013.

An der Schwerarbeiterregelung zeigt sich, wie eine gute, vielleicht zu ehrgeizige und jedenfalls noch zu unfertige Idee in der Arena des politischen Alltagskampfes bis zur Groteske entstellt, in peinliches Selbstmitleid verkehrt wird, ohne dass sich die Darsteller dieses "geborgten Arbeitsleids aus zweiter Hand" und "Proletkults" der Lächerlichkeit ihrer wehleidigen Alimentationsansprüche überhaupt bewusst werden.

Bisher haben nur Politiker ausdrücklich auf den Schwerarbeiterstatus verzichtet; Karikaturisten indirekt. Alle anderen sind noch in der Opferkonkurrenz, "wer hat's am schwersten im ganzen Land?". In einem Land ohne Unterwasserarbeiter, Hochseefischer und einsame Leuchtturmwärter auf offener See mit 30 ununterbrochenen Tag- & Nachtschichten oft unter Lebensgefahr drängen allen Ernstes Akademiker, Sicherheitswache- und Kriminalbeamte, Spitalsärzte bzw. ihre Lobbyisten am lautesten auf Sonderrechte.

Ohne Pensionszuschläge bis zu 50 Prozent – deren Bemessung bereits nachtdienstbedingt bis 80 Prozent höhere Einkommen zugrunde liegen! – wittern sie "Diskriminierung und Ungerechtigkeit". Schließlich hätten sie ja, ohne Erröten, ihre "besten Jahre den Patienten geopfert", jetzt sollen die jedem von ihnen gefälligst neun (!) durch Beiträge unbedeckte Pensionsjahre um je 300.000 Euro spendieren. Wie? Da "soll sich die Politik was einfallen lassen".

Doch warum soll das Pensionssystem viel zu geringe Gehälter und exzessive 48-76 Stundenschichten ausgleichen? Weil bei uns aber Dummheit und Unverschämtheit als Zeichen forscher Lebensart und politischen Muts von Funktionären verkannt werden, ist zu befürchten, dass am Ende dieser unsäglichen Debatte gerade nicht die Ärmsten, Gesundheitsgefährdetsten und Schwerstarbeitenden, sondern diejenigen mit den spitzesten Ellbogen und den besten Lobbyisten die meisten Belastungen, "Burnout" und Stress nachweisen werden können – AUA-Langstreckenpiloten (mit 17-Stunden-Woche bei 14.000 € Gehalt) oder Kammersänger als Helden der Schwerarbeit?

Stress statt Schweiß und Schwielen? Auch Künstler kennen Angststress, Schweiß und Tränen: Selbst routinierteste Bühnenstars wie der von mir hochverehrte Jacques Brel schütteten sich vor Auftritten mit Alkohol zu und machten in die Hose! Und doch denken wir bei allem unbezweifelbaren, oft auch belebenden Eustress von Operndiven, beim Adrenalinstoß hochgeputschter Athleten, zitternder Olympioniken, schlafloser Skirennläufer oder zugekiffter Musiker kaum an "Schwerarbeit", so schwer ihr Auftritt ist. Schon eher beim krankmachenden Disstress von Krankenschwestern, Altenpflegern und Sterbebegleitern.

Es ging nämlich um benachteiligte Schwerstarbeiter, daher war auch die Begrenzungslogik, etwa auf fünf Prozent der Arbeitenden, durchaus richtig. Denn je offener, unbeschränkter, vermeintlich "großzügiger" eine Definition von "Schwerarbeit" ist, umso eher wird das satte Drittel der 1,2 Mio. Österreicher, die sich schon heute selbst als Schwerarbeiter empfinden (gegenüber den nur 188.400 oder 5,2 Prozent, denen sie es mehrheitlich zubilligen!) sich in eine keineswegs mehr schweigende große, ja überwältigende Mehrheit von Schwerarbeitsanwärtern verwandeln, nach dem Motto: Wenn sogar die, dann wir erst recht auch. Letztlich: Wenn schon so viele, warum nicht gleich alle?

Neid- und Suchtlogik

Merk's Politik: Jede nicht absolut und voll konsensfähige Zuerkennung des Schwerarbeiterstatus wird nur zu weiteren Anspruchsinflationen und einer Vermehrung illegitimer Begehrlichkeiten – und Klagfluten – führen! Paradoxe Neid- und Suchtlogik: Je restriktiver die Handhabung, umso weniger subjektives Ungerechtigkeitsgefühl der nicht berücksichtigten Anwärter, je mehr Wahlzuckerln, umso größer der Heißhunger nach süßer Verwöhnung und stets höheren Dosen bei allem und jedem.

Leicht Erreichtes wird gar nicht geschätzt: So sind etwa schon jetzt die Ersatzzeiten für Kindererziehung, Arbeitslosigkeit, Notstandshilfe im Re 4. Spalte gierungsvorschlag international unvergleichlich großzügig, ebenso wie die hundertprozentige Bemessung des Krankengeldes, das selbst Sozialstaaten wie Schweden nicht kennen.

In Schweden, wo Invaliditätspensionen und Krankengeld mittlerweile 15 Prozent der Staatsausgaben, das Doppelte der Verteidigungs- und das Dreifache der Bildungsausgaben, ausmachen, führen Krankenstände unvermeidlich zu beträchtlichen Pensionseinbußen – was sich bei vier bis fünf (!) Krankenstandjahren in Schweden zu großen Pensionsverlusten summiert – während die zwei bis drei Arbeitsjahre bezahlter Krankenstand in Österreich keinerlei Einbuße bewirken. Hier führt erst dauerhafte Invalidität zu einer – geringfügigen – Verringerung der Pensionsansprüche, was die Magnetwirkung der Invaliditätspension keineswegs mindert.

Jeder Zweite Invalide?

Trotz stark steigender Invaliditätsraten und dem Umstand, dass inzwischen fast jeder zweite (!) Mann als Invalide in Pension geht – und noch einmal doppelt so viele einen Antrag stellen! – fehlt weiterhin eine Neuregelung der Invaliditätspensionen. Zusammen mit der Explosion der Inanspruchnahme der "Hacklerregelung" auf 35 Prozent (Männer: 44 Prozent) seit 2000 könnte eine attraktiv hochsubventionierte (nicht unbedingt völlig abschlagsfreie) und vom Empfängerkreis her offene, unbegrenzte "Schwerarbeits"- Regelung mit fünfjährig vorzeitigem Antrittsalter eine neue Massenfrühpension werden: als Einfallstor "von der Hintertür zum Hauptportal" der "Frühpension neu".

Ohne Beitragskonto wird die massive Subvention der drei bis 2,1 Prozent (statt 4,2 Prozent) "Abschläge", die Schwerarbeitern ab 60 den Pensionsanspruch 62–63-Jähriger (aber eben nicht "abschlagsfrei" 65-Jähriger) gewähren, zudem öffentlich fälschlich als "Verlust" missverstanden – und bekämpft, statt gefeiert! Denn hier ginge es vor allem um "Leben zurück" – "Zeit & Geld zurück" hatten sie meist schon. Also um "impaired annuities" bei "Hacklern", nicht um "Hackler" per se. Die Verwechslung mit der "Hackler"-Regelung scheint aber erwünscht, die Offenheit ideal für Anspruchslizitationen, politischen Basar, plattesten Rundumpopulismus in dieser ganz verkehrten Pensionswelt. (DER STANDARD, Printausgabe, 28./29.8.2004)