Die russischen Behörden waren schon einmal schneller mit Schuldzuweisungen gegen die Tschetschenen zur Hand. Als im September 1999 mehr als 200 Menschen bei Explosionen in Wohnblöcken ums Leben kamen, machte Moskau sofort die Rebellen in der Kaukasusrepublik verantwortlich.

Vieles deutet mittlerweile auf den Inlandsgeheimdienst FSB als Urheber hin - Wladimir Putin bereitete damals den Sprung ins Präsidentenamt vor und brauchte eine Drohkulisse. Nach dem fast zeitgleichen Absturz zweier Passagiermaschinen in dieser Woche jedoch hielt sich der Kreml auffällig lang zurück. Eine nahe liegende Erklärung sind die Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien, die Moskau an diesem Sonntag organisiert und deren Sinnlosigkeit durch die Terroranschläge tschetschenischer Extremisten nur unterstrichen würde. Denn keine Wahl wird die Lage in der Kaukasusrepublik stabilisieren, solange die russische Armee und die von ihr geförderten Milizen den Tschetschenen die Hand führen.

Erst die ungeheure Brutalität des russischen Militärs hat den Widerstand in alle Familien getragen und dazu geführt, dass sich auch junge Tschetscheninnen zu Terrorakten hergeben. Erst Putins Straffeldzug gegen Tschetschenien im Herbst 1999 hat den islamistischen Strang des tschetschenischen Separatismus entscheidend gestärkt. Hier liegt auch die Gemeinsamkeit der Terrorbekämpfer Putin und Bush: Mit dem Krieg gegen Tschetschenien oder den Irak haben sie das Terrornetzwerk Al-Kaida ins Land gebracht. Die Aussichten für die Russen wären verheerend, sollten tatsächlich international operierende Islamisten tschetschenische Extremisten beim Anschlag auf die Tupolew-Maschinen unterstützt haben: Russland ist übervoll mit schlecht gesicherten, potenziellen Terrorzielen, und das Leben der einzelnen Bürger - das hat die "Befreiung" der Geiseln im Moskauer Musicaltheater Nordost im Oktober 2002 gezeigt - zählt dem Staat nicht viel. (DER STANDARD, Printausgabe, 28./29.8.2004)