Wien - Zwölf Millionen Menschen sind allein in den deutschsprachigen Ländern Europas von Posttraumatischen Belastungsstörungen betroffen. Verlust von Verwandten, Verkehrsunfälle, Gewalt in der Familie, sexueller Missbrauch, Naturereignisse und Kriege führen zu schweren psychischen Störungen. Mit den neuesten Erkenntnissen auf diesem Gebiet beschäftigt sich jetzt (3. bis 5. September) die Jahrestagung der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie in Wien.

Kongressorganisatorin Univ.-Prof. Dr. Brigitte Lueger-Schuster am Freitag bei einer Pressekonferenz: "Die Psychotraumatologie beschäftigt sich mit den psychischen Folgen von traumatischen Ereignissen. Solche Ereignisse treten immer plötzlich, unerwartet und lebensbedrohend auf. Sie lösen heftige Ängste und Orientierungslosigkeit aus. Danach kann eine (chronische) Belastungsstörung entstehen."

Beispiele

Man rechnet auf Grund von US-Studien, dass zwei bis sieben Prozent der Menschen einmal im Leben eine solche Erfahrung machen. Das aktuellste Beispiel ist derzeit die Geiselnahme in einer Schule in Nordossetien, "9/11", die Katastrophe von Kaprun wären andere Ereignisse, die Menschen in tiefster Verzweiflung und Hilflosigkeit - ohne die für ein normales Leben notwendige Geborgenheit - zurück ließen. Hier ist immer möglichst schnelle Hilfe für die Betroffenen notwendig.

Der Präsident der Gesellschaft, der deutsche Experte Univ-Prof. Dr. Guido Flatten (Ujiversität Aachen): "Psychotraumata sind ein altes Thema. Es wurde aber aus geschichtlichen Gründen teilweise wenig beachtet." Erst der Vietnam-Krieg hätte - in den USA - Psychiater und Psychologen für die psychischen Konsequenzen von Gewalt aufmerksamer gemacht. Traumatische Erlebnisse durch Menschenhand sind generell wesentlich belastender als beispielsweise Naturkatastrophen.

Folgen und Gefahren

Was die chronische Posttraumatische Belastungsstörung ausmacht: Nach dem unerhörten Stress eines Unglücks kann es zu einer mangelhaften Verarbeitung des Erlebten kommen. Langfristig können dann Depressionen, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, ständige Flash-Back-Erinnerungen, Angstzustände, Panikattacken in einer Stärke auftreten, die das Leben zur Qual machen. Zusätzlich gibt es die Gefahr von Suchtkrankheit.

Bei manchen Betroffenen - zum Beispiel Überlebenden der Shoa - kann das auch erst Jahrzehnte nach den schrecklichen Erlebnissen der Fall sein. In der Behandlung werden vor allem Psychotherapie und Medikamente (Selektive Serotonin-Reuptake-Hemmer/Antidepressiva) und spezielle psychologische Techniken kombiniert.

Autounfälle

Univ.-Prof. Dr. Dean Ajdukovic vom Institut für Psychologie der Universität Zagreb betonte, dass die Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren immer mehr auch die psychischen Folgen von Unglücksereignissen etc. erkannt habe: "Traditionell waren das versteckte Leiden. Sie werden aber jetzt weniger verdrängt. Bei einem Autounfall versorgte man ehemals die Oper medizinisch im Spital. Doch nach ihrer Entlassung kümmerte sich niemand um ihren psychischen Zustand."

Was in Europa - durch tragische Ereignisse - zu diesem Wandel in den vergangenen Jahren beigetragen hat: die Balkankriege. Ajdukovic: "Da gab es mehr Flüchtlinge und Verfolgte als je zuvor in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Traumatisierten standen an der Haustür der Experten." Das selbe gelte aber immer auch für Flüchtlinge, Folteropfer oder sonst verfolgte Menschen.

Zeitgeschichte als größter Auslöser

Dabei ist gerade in Europa die Zeitgeschichte der größte Auslöser solcher psychischer Störungen. Der Leiter der Ambulanz für transkulturelle Psychiatrie und migrationsbedingte Störungen am Wiener AKH und Präsident der ESRA-Hilfsoroganisation für Shoa-Opfer: "In den letzten fünf Jahren behandelten wir immer mehr Asylwerber und Flüchtlinge."

Schon nach dem Ersten Weltkrieg hätte man "Kriegsneurosen" eher verdrängt. Friedmann: "Zwischen 1910 und 1960 gab es eine Lücke. Sie war geprägt von zwei Weltkriegen und unmenschlichen Gräueltaten in einer Dimension, die man bis dorthin nicht gekannt hatte. Während in den USA und Großbritannien erste Veteranen-Einrichtungen für Menschen mit 'Kriegsneurose' eingerichtet wurden, gab es diese Dinge in Deutschland und Österreich nicht. Man war mit der Bewältigung des Krieges und seiner Folgen beschäftigt." - Den KZ-Überlebenden widmete man sich bestenfalls im Rahmen von Rentenansprüchen.

Balkankriege

Univ.-Prof. Dr. Rita Rosner (Universität München) beschäftigt sich seit Jahren mit den Opfern der Balkankriege: "Aus traumatologischer Sicht handelt es sich um einen der am besten analysierten Kriege in der Geschichte der Menschheit. Unser Augenmerk galt dabei besonders den Folgen für die Zivilbevölkerung. (...) Ähnlich wie in anderen Untersuchungen weltweit sind auch im ehemaligen Jugoslawien Frauen doppelt so häufig von der Störung betroffen wie Männer. Für Frauen potenzieren sich häufig die Probleme in der Folge eines Krieges. Besonders schwierig ist die Situation für die Frauen, wenn Mann und Kinder umgekommen sind und auf Grund des Alters eine neue Familiengründung nicht mehr möglich ist." - Hinzu kämen Vergewaltigungen und andere Formen der sexuellen Gewalt.

Ein Faktum, das bei Kriegen besonders zum Tragen kommt: Ganze Gesellschaften können solche Schäden aufweisen. Die Expertin: "Nicht vergessen werden sollte - auch wenn dieser Krieg aus den Schlagzeilen verschwunden ist -, dass eine kollektive Traumatisierung, wie sie auf dem Balkan stattfand, nicht einfach zu verarbeiten ist. Die Bemühungen um die Betroffenen werden noch lang anhalten müssen." (APA)