Gleich zu Anfang werden wir mit dem Prozess gegen den angeblichen Juden Fritz Scherwitz konfrontiert: aufgewachsen als Soldatenkind bei einem Freikorps, wohnhaft in Wertigen (Bayern), neuerdings Beauftragter für rassisch, religiös und politisch Verfolgte im Dritten Reich, zuvor jedoch: SS-Mitglied Nr. 241.935, SS-Untersturmführer F Nr. 51.651, gleichzeitig aber angeblicher KZ-Häftling Nr. 27.697 und Opfer des Faschismus Nr. 10.223.

Das ist die Ausgangslage. Das ist über Fritz Scherwitz alias Eleke Sirewitz aktenkundig gesichert, als ihm nach Kriegsende der Prozess wegen mehrfachen Mordes gemacht wird. Niemand wird je wissen: wo und wann der Mann geboren wurde; wie er genau heißt; wer seine Eltern waren; welchen Glaubens er war; wie er zu einem Ariernachweis, wie er überhaupt in die SS kam - und ob er als Schaf im Wolfspelz (Uniformträger der SS) das KZ-Außenlager Lenta im lettischen Riga leitete, um "seine Häftlinge" zu retten, oder ob er, umgekehrt, ein überaus schlauer Kriegsgewinnler war, der die groben Methoden gegen die KZ-Insassen aus Effizienzgründen ablehnte.

Anita Kugler erklärt, sie sei "beinahe vom Stuhl gefallen", als sie während der Sichtung von Gerichtsakten auf Fritz Scherwitz gestoßen sei, der als Jude ein KZ-Außenlager geleitet habe und 1950 für die Erschießung von Häftlingen vom Schwurgericht München mit sechs Jahren Zuchthaus bestraft worden sei. Obwohl Scherwitz' Personalien nicht gesichert waren - er selbst präsentierte eine Vielzahl widersprüchlicher Lebensläufe -, ging das Gericht von seiner jüdischen Herkunft aus und legte ihm, noch völlig der NS-Logik verhaftet, den angeblichen Mord an "Rassegenossen" verschärfend aus: ein Irrwitz, wonach es weniger schlimm gewesen wäre, hätte er deutsche Christen umgebracht - so wie es im Umkehrschluss weniger schlimm gewesen war, dass Deutsche Juden ermordet hatten.

Wenn Anita Kugler erklärt: "Nach 1945 haben ihm alle geglaubt, dass er Jude sei - und alle hatten ihr eigenes Interesse daran", so gilt dies auch für das Münchner Gericht und die Geschworenen. Die Verurteilung des Juden Fritz Scherwitz kam einer Entlastung der deutschen Kriegsverbrecher gleich, indem sie vermeintlich bewies, auch Juden hätten ganz gut Chefs von Konzentrationslagern sein und sich den Posten - um auch noch gleich die antisemitischen Vorurteile zu bedienen - mit "Schwindeleien" ergattern können. Es war, sagt Kugler, "ein antisemitischer Prozess", in dem zur Genugtuung der wenig geläuterten Richter, der Geschworenen und der meisten anwesenden Journalisten Juden gegen einen Juden aussagten.

Kuglers Biografie ist eine Klammererzählung, die mit dem Prozess beginnt und mit dem Prozess endet, dessen Verlauf sich wie eine Farce liest: Zeugen widersprechen sich; Entlastungszeugen werden nicht vernommen; überprüfbaren Einwänden des Angeklagten wird nicht nachgegangen; Beurteilungen vom "Hörensagen" werden als Fakten interpretiert.

Es ist absehbar, welche Fragen auf Anita Kugler zukommen: Darf ein Mensch, der nachweislich eine SS-Uniform trug und ein Arbeitslager leitete, in den Genuss einer differenzierten und stellenweise wohlwollenden Beschreibung kommen? Weshalb soll hier einem Täter im Range eines Unterscharführers Gerechtigkeit widerfahren, wenn es doch unmöglich ist, den Opfern des Dritten Reiches Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Reizte die Historikerin der sensationelle Stoff, ging es ihr darum, Tabus zu brechen? Allerdings löst sich das "moralische Problem" in der Praxis: Wer keine historischen Kenntnisse über Hitelerdeutschland, die Konzentrationslager, den rabiaten Antisemitismus (nicht nur in Deutschland) besitzt, wird die Lektüre des Wälzers nicht durchstehen und wohl auch nicht in Angriff nehmen. Wer den Kontext aber vor Augen hat, wird wohl kaum auf die Idee verfallen, die Geschichte des angeblichen Juden Scherwitz diene revisionistischen Absichten.

Im Gegenteil: Die Ausführungen über die deutschen Freikorps, die Scherwitz' "Familie" waren und ihn zu einem Menschen machten, der nur in Verbänden leben konnte - schließlich in der SS - die ausführliche Schilderung der Massaker an Juden in den Wäldern bei Riga und die Entlarvung des amoralischen und korrupten SS-Systems, das Scherwitz von seinem Lager aus mit Luxusgütern bediente - diese Ausführungen sind genügend Revisionismus-Gegengift.

Anita Kugler liefert zu ihrer zwiespältigen Figur immer die Umgebung der Barbarei, in der diese sich durchmogelt mit dem Resultat, dass dabei - auch darüber gibt es Zeugenaussagen - Menschen gerettet werden, die Scherwitz jeweils als "meine Juden" bezeichnete. "Scherwitz hat nie ein bürgerliches Leben geführt, er hat es nirgends lernen können", sagt Anita Kugler. So sehen wir ihn denn mit elf Jahren als Schuhputzer und Ordonnanzsoldaten des Freikorps Diebitsch. Als Erwachsenen sehen wir ihn in Berlin, wie er sich in die Nazihierarchie einzufügen versucht. Wir staunen darüber, wie ein Mensch, der über sich nicht einmal die nötigen Passangaben machen kann, von den Nazibehörden zum Arier erklärt wird; wie er es fertig bringt, "SS-Uniformträger" zu werden, also ein Mitglied der SS ohne eigentliche Verfügungsgewalt, die er sich aber bald herausnimmt; wie er sich nach dem 8. Mai 1945 zum Juden erklärt - oder wieder zum Juden wird -, dazu noch zu einem Opfer des Nationalsozialismus; wie er nun seine zweite Karriere bei einer Behörde beginnt, die Wiedergutmachung an den im NS-Staat Verfolgten leisten will; wie er erkannt, verhaftet, abgeurteilt wird.

Es gibt keine Formel, es gibt kein Fazit, und Anita Kugler tut gut daran, unserem Bedürfnis nach Klarheit nicht nachzugeben. Scherwitz ist der Beweis dafür, dass der Mensch alles und jedes sein kann, sogar das Unmögliche. Kein Schriftsteller wäre in der Lage, einen Scherwitz zu erfinden, und die Autorin hat sechs Jahre gebraucht, um ihn gleichsam zu umzingeln. Wer sich auf das Wagnis dieser Biografie einlässt, wird am Ende heilsam ratlos die beiden Buchdeckel zuklappen. (Dante Andrea Franzetti/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4./5. 9. 2004)