Zur russischen Armee der Brieftauben wegen? Der junge Tiroler Martin Schletterer, Jahrgang 1985, hat diese Reise unternommen - und noch viele andere auch: Er hat auf Sardinien Felsentauben beobachtet und im Wiener Naturhistorischen Museum nach Taubenliteratur geforscht. Er hat den Taubenfreund Helmut Pechlaner interviewt und mit Tauben-Orientierungsexperten in der Schweiz gearbeitet.

Zur Matura hat er seine Fachbereichsarbeit in Biologie - natürlich - der Taube gewidmet: "Haus- und Wildtauben in Österreich unter besonderer Berücksichtigung ethologischer Aspekte" hieß sie, und davor hatte er schon im Eigenverlag die Arbeit "Einsatz von Brieftauben bei Gendarmerie und Bundesheer" veröffentlicht.

Mittlerweile studiert Martin Schletterer Biologie, und bestimmt wird er da noch einiges bewegen. Tirol hat ja schließlich schon einige hochkarätige "Naturmenschen" hervorgebracht - nicht zuletzt den bereits oben erwähnten Schönbrunn-Direktor Pechlaner. Der hat auch ein Vorwort zu Schletterers erstem Buch beigesteuert: "Die Taube im Wandel der Zeiten" verspricht im Untertitel "Biologische & historische Variationen" und hat in dieser Hinsicht tatsächlich einiges zu bieten - auch Neues und sogar "Taubenauskennern" Unbekanntes.

So stöberte Schletterer etwa im Dom zu Salzburg eine in ihrer mittelalterlichen Einfachheit ergreifend schöne "Hostientaube" auf - das Gefäß in Taubenform wurde zu Beginn des 13. Jahrhunderts gefertigt.

Erstaunliches und dem letzten wissenschaftlichen Stand Entsprechendes hat Schletterer auch über Straßentauben recherchiert: etwa die Möglichkeit, über die Untersuchung von Stadttaubeneiern die Schadstoffbelastung in deren Lebensraum zu ermitteln.

Auch den phänomenalen Heimkehrleistungen der Brieftauben ist ein Kapitel gewidmet - und Schletterer hat auch hier penibel recherchiert. Zeitgeschichtlich hochinteressant sind seine Ausführungen über die Bedeutung der Militärbrieftauben im Zweiten Weltkrieg: Wer weiß etwa, dass die Deutschen schon vor Kriegsbeginn Flugversuche durchführten und die schnellste deutsche Taube den Ärmelkanal in 26 Minuten überquerte? Oder dass, als Goebbels am 8. April 1938 auf dem Wiener Rathausplatz den "Tag des Großdeutschen Reiches" verkündete, dort auch 30.000 Brieftauben hochgelassen wurden? Oder dass eine mit einem Franzosen verheiratete Engländerin, die in Paris mittels Tauben gegen die Deutschen Spionage betrieb, ihre Vögel mit Erdnüssen fütterte, um sich nicht durch den Kauf von Taubenfutter zu verraten?

Tauben sind biologisch hochinteressante Lebewesen: Dass sie in regelrechter "Ehe" leben, die Partner besonders zärtlich miteinander umgehen und auch ihre Jungen hingebungsvoll umsorgen, hat die Menschen seit jeher fasziniert. Und in den rund 5000 Jahren, in denen die Hausformen der wilden Felsentaube vom Menschen erzüchtet und genutzt wurden, erlangten Tauben Bedeutung für viele menschliche Lebensbereiche.

Heute ist die wichtige Rolle, die Tauben in der Menschheitsgeschichte spielten, in Vergessenheit geraten - der junge Tiroler Martin Schletterer ruft sie uns mit neuen Aspekten in Erinnerung. (Andrea Dee/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4./5. 9. 2004)