Das Dilemma ist bekannt: Obwohl Forscher mit biochemischen Methoden Zellen mittlerweile bis ins Kleinste charakterisieren können, ist die Schulmedizin gewissermaßen über ein - wenn auch durch klinische Tests weit gehend abgesichertes - Probierstadium nicht hinausgekommen. Nun gibt es erstmals Perspektiven, wie man sich aus dieser Zwickmühle befreien und Hintergründe besser verstehen könnte.

Das Schlagwort heißt Metabolomics und bezeichnet eine hochkomplexe labordiagnostische Methode, deren Erkenntnisse in rund zehn Jahren das Gesundheitssystem maßgeblich beeinflussen könnten, sowohl was Diagnostik als auch Früherkennung und Therapie betrifft.

Aus winzigen Mengen Blut oder Urin untersuchen Forscher dabei bestimmte Stoffwechselprodukte (Metabolite). Diese Substanzen sind die Bestandteile von Eiweißen, Fetten und Kohlehydraten und werden im Stoffwechsel auf- und abgebaut. Sie steuern die verschiedensten Körperfunktionen, erlauben Rückschlüsse auf Gesundheit oder Krankheit eines Menschen. Der Unterschied liegt in der Aufbereitung: Anders als im klinischen Labor, wo man aus einer Blutprobe maximal fünf Arten von Stoffwechselprodukten bestimmen kann, erhält man bis zu 500 verschiedene Metabolite. "Fast wie ein Röntgenbild im Blut", umschreibt das der Leipziger Molekulardiagnostiker Joachim Thiery. Als Messinstrument dient das Massenspektrometer, ursprünglich für physikalische Experimente verwendet, mit dem man Moleküle exakt nach ihrem Gewicht trennen kann.

Exaktere Diagnosen

Aus diesem individuellen Profil, dem metabolischen Fingerabdruck, ließen sich dann viel exaktere Diagnosen und möglicherweise auch Prognosen erstellen. "Gelänge es, diese funktionalen Proteinmuster im Blut präzise zu erfassen und wiederkehrende Merkmale mit bestimmten Krankheitsbildern in Verbindung zu bringen, ließen sich vielleicht zuverlässige Marker für diese Krankheiten finden", hofft Thiery. "Vor allem dann, wenn sie sich beim Patienten noch nicht mit den üblichen Symptomen bemerkbar machen."

Die Anwendungsmöglichkeiten sind mannigfach, die Ergebnisse bescheinigen dabei dem Innsbrucker Forschungszentrum Biocrates Life Sciences, Mitglied im Kompetenzzentrum Medizin Tirol (KMT), eine Vorreiterrolle. Etwa im Bereich des metabolischen Syndroms, wo Biocrates eng mit dem Institut für biochemische Pharmakologie der Medizinischen Universität Innsbruck kooperiert. Beim metabolischen Syndrom handelt es sich um eine wohlstandsbedingte Mischung aus Bluthochdruck, erhöhten Blutfetten, verminderter Insulinwirkung und erhöhten Insulinspiegeln - in der westlichen Welt ein aufgrund falscher Ernährungsgewohnheiten weit verbreitetes Krankheitsbild.

Der Innsbrucker Mediziner Hartmut Glossmann: "Ob ein Baby 15 Jahre später am metabolischen Syndrom leiden wird, lässt sich über die Gene nicht vorhersagen. Über den Stoffwechsel wahrscheinlich schon." Gegen die ungünstige Prognose könnten rechtzeitig auch noch Maßnahmen getroffen werden, die noch weit von der Medikamentengabe entfernt sind: der strenge Ratschlag des Arztes zu einer gesunden Lebensführung etwa.

"Heiß umforscht" wird laut Biocrates-Forscher Klaus Weinberger auch der Bereich Niereninsuffizienz, wenn die Niere nicht mehr richtig arbeitet und es schließlich zu einem vollständigen Versagen kommt: "Im Labor wird meistens nur Kreatinin als Indikator ermittelt. Bis dieser Wert aus dem Normbereich abweicht, arbeitet die Niere aber schon extrem schlecht. Mit der metabolischen Analyse erhalten wir statt dieses einen Wertes bis zu 300 harnpflichtige Substanzen."

Verglichen mit dem Normprofil könne man dadurch die Fehlfunktion bereits viel früher erkennen und entscheidende Maßnahmen setzen, um die gefürchtete Dialyse abzuwenden. "Es geht um Früherkennung, die eine Prävention möglich macht, statt zu einem späten Zeitpunkt mit einer Therapie zu beginnen, die unter Umständen gar keinen Heilungserfolg verspricht", meint Weinberger. "Diese Technologie kann in so kleine Partikel hineinleuchten, wie das noch vor fünf Jahren nicht denkbar war", bestätigt Joachim Thiery von der Uni Leipzig.

Eiweißprofile

Das reicht bis zur zuverlässigeren Krebsdiagnose: Biocrates arbeitet an der Vorhersagekraft von Eiweißprofilen bei Prostatakrebs. Erforscht werden auch Ansätze zur Therapiekontrolle. Die Uniklinik Innsbruck will noch im Winter mit dem Einsatz des Massenspektrometers zum Nachweis von Immunsuppressiva für Transplantationspatienten beginnen. Dem Traum von der "maßgeschneiderten Therapie" rücken die Wissenschafter mit der metabolischen Analyse damit ein ganzes Stück näher.

Noch befinden sich die Studien im Teststadium. "Die Hausaufgaben müssen noch gemacht werden", weiß auch Thiery. "So viele Details sind noch unklar: Wann darf die Probe abgenommen werden, wie oder wie lange soll sie gelagert werden, wann ist der Patient im richtigen ,Prognosealter'?", rätselt er und hilft sich mit einem Vergleich: "Das Auto ist da, es fehlt noch die Landkarte." (Doris Priesching/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6. 9. 2004)