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STANDARD: Sie treten als scharfzüngiger Globalisierungskritiker auf. Ist globales Wirtschaftswachstum in Wirklichkeit nicht die einzige Chance auf Entwicklung im Süden?

Radermacher: Falsch. Ich bin kein Globalisierungskritiker. Es hätte auch gar keinen Sinn, gegen die Globalisierung aufzutreten. Sie findet einfach statt. Sie könnte aber sehr viel besser gestaltet werden, als das heute der Fall ist. Denn in der jetzigen Form zerstört sie die Umwelt, hält die Welt ärmer, als sie sein könnte, und sät Hass und Terror. Ich verstehe mich als Globalisierungsgestalter.

STANDARD: Sie halten die Anschläge vom 11. September 2001 für eine Folge der wirtschaftlichen Globalisierung?

Radermacher: Da gibt es sicher einen Zusammenhang. Wir wirken über die Globalisierung massiv in die kulturellen Verhältnisse in ärmeren Ländern hinein. Wir profitieren ökonomisch, helfen aber kaum im Bereich der Entwicklungsförderung, weil angeblich kein Geld da ist. Seit dem 11. September sind aber plötzlich 100 Milliarden US-Dollar im Jahr für den so genannten Heimatschutz verfügbar. Es gibt Leute, die wollen das so, weil sie prächtig an Homeland-Security verdienen und zugleich die Menschen auch bei uns noch perfekter überwachen können als bisher. Die nötigen 60 Milliarden Dollar, um im Rahmen der UN-Millennium-Entwicklungsziele bis 2015 allen Kindern dieses Planeten eine Schulbildung zu finanzieren, bringt die Welt natürlich nicht auf.

STANDARD: Noch einmal, Sie sehen einen direkten Zusammenhang zwischen Globalisierung und Terror. Warum gibt es den Terror nicht auch viel massiver in Europa? Wir Europäer spielen doch bei der Globalisierung genauso mit.

Radermacher: Weltweit ist den Menschen bewusst, wer Treiber einer marktfundamentalistischen Form der Globalisierung ist und wer Opfer. Nicht überraschend schlägt diese falsch laufende Form der Globalisierung über die WTO-Mechanismen immer stärker auch in Europa durch, und zwar gegen den Willen und die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung. Sie bewirkt in Ländern wie Deutschland und Österreich einen massiven Rückbau des Sozialstaates, in dem der Druck auf die öffentlichen Kassen erhöht wird. Auch bei uns geht die gesamte Entwicklung zulasten von 85 Prozent der Bevölkerung und zugunsten der 15 Prozent Gewinner dieser Prozesse. Die weltweite Agenda lautet: Wie kommt noch mehr Geld zu jenen, die es ohnehin schon im Überfluss haben?

STANDARD: Wohin führt das?

Radermacher: Die Zukunft ist unklar. Es gibt zwei wesentlich verschiedene Möglichkeiten: Balance oder Zerstörung. Ich sehe eine 35-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass es gelingt, das jetzige System in etwas Besseres zu transformieren, indem wir weltweit eine ökosoziale Marktwirtschaft durchsetzen und dazu zum Beispiel den von uns vorgeschlagenen globalen Marshallplan verwirklichen. Mit 65-prozentiger Wahrscheinlichkeit aber geht es so weiter wie bisher. Das bedeutet: Eigentums- und Ressourcendiktatur, Verhinderung eines forcierten Entwicklungsprogrammes für die arme Welt, Angriffskriege, Plünderung der Umwelt und über den fatalen Welthandelsmechanismus die Konzentration des Reichtums bei den ohnehin Reichen und bei uns letztlich der Abbau der Bürgerrechte.

STANDARD: Was soll der globale Marshallplan leisten?

Radermacher: Der Vorschlag ist die Einbindung des Südens in die weitere Entwicklung, so wie wir das gerade mit den neuen Partnerländern in der EU-Erweiterung betreiben. Die ärmeren Länder müssten dabei in einem "Deal" die internationalen Arbeits-, Sozial-, Umwelt- und kulturellen Standards akzeptieren. Dafür würden die Industrienationen Kofinanzierungsmaßnahmen leisten, etwa die Schulbildung für die Kinder in den ärmeren Ländern mitfinanzieren. Nötig wären dafür in den nächsten Jahren etwa hundertzwanzig Milliarden Dollar jährlich. Die Mittel sollten aus internationalen Abgaben auf Handel, Finanzdienstleistungen et cetera gewonnen werden. Nur zum Vergleich: Das US-Militär verschlingt jährlich 460 Milliarden Dollar.

STANDARD: Das klingt nach klassischer Entwicklungshilfe. Das hat doch noch nie wirklich funktioniert.

Radermacher: Nein, keine klassische Entwicklungshilfe, sondern neue Umsetzungsmethoden unter Einbindung von NGOs und Weltzivilgesellschaft. Ferner würde über die vorausgesetzte Verbindlichkeit von Standards auf der Ebene der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt, dass in keiner Produktion weltweit mehr Kinderarbeit drinnensteckt. Das wäre ein gewaltiger Fortschritt.

STANDARD: Sie träumen von einer gerechteren Welt, ein sehr alter Traum.

Radermacher: Andersherum: Eine Welt, in der jeden Tag 24.000 Menschen verhungern und mehrere Hundert Millionen Kinder nicht einmal eine Schulbildung bekommen, kann nicht gerecht sein und ist als Zustand nicht akzeptabel.

STANDARD: Die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer. Ist diese Formel nicht zu simpel? Das hohe Wirtschaftswachstum etwa in China bringt doch Wohlstandsgewinne nicht nur für eine kleine Elite.

Radermacher: Das ist richtig, und China, ein Land, das keine Demokratie ist und übrigens eine rigorose Bevölkerungspolitik verfolgt, ist das beste Beispiel für Entwicklung, das wir zurzeit haben. Das ist so, obwohl China gerade nicht das tut, was Marktfundamentalisten und Verfechter vermeintlich total freier Lösungen immer propagieren. In Afrika gibt es im Gegenzug teilweise sogar Rückschritte. Und Sie dürfen nicht vergessen: Zehn Prozent Wirtschaftswachstum in China bedeuten pro Kopf nur ein Drittel des absoluten Zuwachses, der ein Prozent Wachstum in Österreich bedeutet. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6.9.2004)