Fast hätte man glauben können, für die trauernden Menschen in Beslan könne es keinen Trost und für die fassungslos vor dem Fernseher sitzenden Beobachter hierzulande keine Erklärung geben, nach dem Massaker. Zum Glück gibt es aber die so genannten Experten, die Politiker und Kommentatoren, die für jede Lebenslage einen vernünftigen Rat wissen. Hinweise auf Putins "verfehlte Politik der harten Hand" und auf eine schnellstmögliche Separation Tschetscheniens waren schnell gegeben. Die Globalisierung, die Amerikanisierung, die israelische Besatzung, die russischen Gräuel in Tschetschenien – irgendwie sind die Opfer des Terrors immer selber schuld, und immer wird eine "politische Lösung" gefordert.

Eine Regel nach dieser Logik lautet: Nur solche Länder werden angegriffen, die den Einmarsch im Irak mitgemacht haben und/oder in einen regionalen Konflikt verwickelt sind, der Terrorismus gebiert. Insofern war die Entführung der beiden französischen Journalisten in der vergangenen Woche im Irak ein bemerkenswerter Vorgang.

Zunächst ist bemerkenswert, welche diplomatische Wucht Frankreich im Nahen Osten zu aktivieren vermag, wenn es um entführte Landsleute geht, wobei diese Erkenntnis den Verdacht nährt, dass es der "Grande Nation" gleichgültig ist, wenn zeitgleich dreizehn Nepalesen regelrecht abgeschlachtet werden. Wo ist der Einfluss der Franzosen gewesen, als es türkische Lastwagenfahrer oder einen italienischen Journalisten traf?

Bemerkenswert war darüber hinaus, wie viele Beobachter eine Freilassung als logische Folge der französischen Außenpolitik ansahen, während die Entführung als eine überraschende "Symmetrieverschiebung" kommentiert wurde.

Diese Auffassung beruht auf zwei fatalen Irrtümern. Der erste Irrtum ist: Die Terroristen, die solche Taten begehen, folgten einem rationalen politischen Konzept. Rückzug aus dem Irak, Erlauben des Kopftuchs, Unabhängigkeit für Tschetschenien, Freiheit für Palästina – aus dem Missverständnis, die Terroristen glaubten tatsächlich an diese moderaten politischen Visionen, speist sich jene zynische Argumentation, die wir sogar rund um die bestialische Geiselnahme in Beslan ertragen mussten. "Nein, es gibt keine Entschuldigung dafür, Kinder als Geiseln zu nehmen, aber sind die Forderungen der ‚Rebellen‘ nicht berechtigt?" – "Nein, man sollte keine Journalisten entführen, aber ist das Kopftuchverbot nicht ein Angriff auf die religiösen Gefühle vieler Muslime?"

Diese Erklärungsversuche sind nicht nur moralisch fragwürdig, sie sind auch politisch blind. Auf der ganzen Welt werden Menschen gequält, unterdrückt und in ihren religiösen Gefühlen verletzt. Die allermeisten von ihnen würden sich trotzdem nie inmitten unschuldiger Menschen in die Luft jagen oder fliehenden Kindern in den Rücken schießen.

"Die schmerzhafte Wahrheit: Alle Terroristen der Welt sind Muslime" schrieb die in London erscheinende arabische Zeitung Asharq al-Awsat nach dem Massaker von Beslan. Das mag im Schock übertrieben sein, es trifft aber einen Kern, den viele in Europa nicht wahrhaben wollen. Abseits realer regionaler Konflikte, die manchmal Grundlage, meist Vorwand des Terrors sind, haben wir es mit islamistischen (nicht muslimischen) Mörderbanden zu tun, denen es vollkommen egal ist, welches Land in den Irak einmarschiert ist und welches nicht.

Die Terrorakte dieser Gruppen werden nicht zentral aus den afghanischen Bergen befohlen – aber sie werden verübt unter dem gemeinsamen ideologischen Dach des Wahns, für den Al-Kaida steht. Sie werden dort verübt, wo es logistisch möglich ist und wo mediale Aufmerksamkeit sicher ist. Dass weder Frankreich noch Deutschland bisher betroffen waren, ist Zufall – Anschlagspläne gab es in beiden Ländern.

Am 11. September vor drei Jahren sind auch Deutsche in den Türmen des World Trade Centers umgekommen. In Djerba starben Deutsche. Und eine Vielzahl, wenn nicht die Mehrheit der Terroropfer sind Muslime. Kopftücher oder ein palästinensischer Staat? Das sind rhetorische Manöver im Medienkrieg, bestenfalls Etappenziele auf dem Weg zur islamistischen Weltherrschaft.

Tschetschenien ist ein hervorragendes Beispiel. Nach dem ersten Tschetschenien- Krieg war die Region bis 1999 autonom – und wurde in ^dieser Zeit zur Macht- und Operationsbasis arabisch finanzierter Terroristen, denen die nationale Frage der Tschetschenen herzlich egal ist.‑ Der zweite Krieg wurde von Putin begonnen, nachdem tschetschenische "Rebellen" die Nachbarrepublik Dagestan überfallen hatten. Das tschetschenische Verlangen nach Unabhängigkeit ist so weit legitim, wie es um eine geregelte Autonomie als russische Republik geht.

Es gibt jedoch keine völkerrechtliche Legitimation dafür, dass eine Volksgruppe von einer Million Menschen, die seit ihrem Bestehen nie einen einigen Staat zustande gebracht hat, sich von Russland abspaltet, zu dem es – völkerrechtlich unstrittig – gehört. Die Tschetschenen haben ein Recht darauf, dass sich die russische Armee an die russischen Gesetze hält, dass Verschleppungen, ungesetzliche Erschießungen, Brandschatzung und Vergewaltigungen durch russische Soldaten aufhören. Dies ist Putins Verantwortung, der er schleunigst nachzukommen hat. Die legitime Aufgabe der russischen Armee, auf die die Zivilbevölkerung (zu der auch Russen und andere Minderheiten gehören) ein Recht haben, ist, die Warlords, die selbst ernannten Rebellenführer und die islamistischen Dschihad- Kämpfer zu verhaften oder zu töten. Ein Abzug aus der Region, gar die Aufgabe der Teilrepublik, würden viele Westeuropäer gerne sehen – die Probleme des Kaukasus wären damit nicht gelöst, im Gegenteil. Der islamistische Terror würde eher bestärkt.

Kein westliches Land kann sich diplomatisch bei Osama Bin Laden und seinen ideologischen Brüdern vom Terror freikaufen. Der zweite Irrtum ist nämlich, dass der Westen – zu dem in diesem Fall Russland zählt – dafür verantwortlich wäre, den Terror politisch lahm zu legen. Dafür kann aber nur die islamische Welt zuständig sein. Es wird Zeit, dass sie und ihre Autoritäten einsehen, welcher Irrsinn in ihrem Namen geschieht. Der Westen kann den islamistischen Terror militärisch bekämpfen – besiegen können ihn nur die Gesellschaften, denen dieser Todeswahn entwachsen ist. (DER STANDARD, Printausgabe, 8. 9. 2004)