Beslan, 3. September 2004. Wir waren mitten in einem Live-Shot für CNN International, als wir zwei Explosionen hörten. Wir hatten die ganze Zeit über viele Schüsse vom Gelände der Schule gehört, aber diese waren lauter. Dann folgten Schüsse von Schnellfeuergewehren, immer und immer wieder.

Ich war auf Sendung und beschrieb die Explosionen, versuchte, sie in einen Zusammenhang zu bringen. Sobald ich mich vor die Kamera begeben hatte, wurden die Schüsse heftiger. Es hörte sich ziemlich nah an, aber ich wusste aus Erfahrung, dass es nicht so nah war, wie es mir erschien.

Die Menge, bestehend aus Hunderten von Verwandten, die seit zwei Tagen geduldig, fast stoisch vor der Schule verharrten, begann zu rennen. Manche rannten direkt auf uns zu, doch die meisten zerstreuten sich in andere Richtungen. Alle – uns eingeschlossen – hatten große Angst, dass die Geiselnahme in einem Schusswechsel mitten unter den Hunderten von gefangenen Kindern enden würde.

Ich glaube, ich werde den Ausdruck der Gesichter der Männer und Frauen, die an uns vorbeirannten, nie vergessen: Gesichter, gezeichnet von nackter Angst, Panik. Nicht weil sie in Gefahr waren (und bei Gott, das waren sie), sondern weil sie wussten, dass ihre Kinder sterben könnten.

Wir ließen die Kamera in die Menge gerichtet laufen und duckten uns hinter einem Auto. Ich beschrieb die Menge und die Schüsse, bis ich unterbrechen musste, um unsere eigene Sicherheitssituation einzuschätzen. Wir nahmen den Ton raus.

Glücklicherweise hatte ich CNN-Produzentin Anastasia (Nastya) Anashkina und Kameramann Alexey (Alex) Belov dabei. Sie hatten bereits unser DNG-(Digital Newsgathering)-Kit aufgestellt. Natasha wählte sich auf dem Mac ins CNN-Computersystem auf 2-M4-SAT-Telefonen ein, installierte und startete die Verbindung.

Mensch und Gerät

Dann kamen wir an einen Punkt, an dem wir entschieden, dass nur Alex und ich – die minimale Personenzahl, um in solchen Situationen senden zu können – von unserer momentanen Position weitermachen würden. Wir entschieden auch, dass wir, wenn wir losrennen müssten, das Equipment zurücklassen würden. Mir war bewusst, dass es wichtigere Dinge gibt als den Verlust eines 30.000 $ teuren DNG-Gerätes.

Die Kämpfe erschienen uns sehr nah, obwohl einige Leute auf dem Platz vor uns stehen blieben. Alex und ich sahen uns um, und als wir halbwegs überzeugt waren, dass unsere Sicherheit gewährleistet war, steckte ich mein Mikrofon wieder ein.

Zwei Minuten waren vergangen. Unser Livebild lief noch. Und wir waren wieder im Einsatz. Momente später sahen wir die ersten Verletzten vor uns auftauchen.

Als Erstes sahen wir, wie ein verwundeter Mann herausgetragen wurde. Dann einen Kameramann, der offenbar angeschossen wurde. Dann einen Jungen. Alex richtete unsere Kamera auf sie. Ich redete. Immer wieder fragte ich den Moderator, ob man – wir waren live auf Sendung – gut genug erkennen konnte, worüber ich sprach. Zum Glück war es so.

Vor Ort kann man die Qualität der Bilder, die dann auf dem Schirm zu sehen sind, einfach nicht abschätzen.

APTN war ebenfalls live auf Sendung, mit einem Bild, das offensichtlich die Grundstücksgrenze der Schule zeigte. Deshalb übernahm CNN auch ihr Signal und zeigte beide Bilder auf einem geteilten Bildschirm.

Dies lieferte dem Zuschauer eine einzigartige Doppelperspektive auf die Entwicklungen – sie vereinte die AP-Bilder mit unserem Blick vom Parkplatz, wo die Verletzten evakuiert wurden.

Wir waren während des Großteils der nächsten sieben Stunden live auf Sendung, da die Kämpfe anhielten. Wenn man so lange "on air" ist, wird es schwierig, an neue Informationen zu gelangen.

Man kann nur seine direkte Sicht auf die Bewegungen schildern, und es ist schwer abzuschätzen, was weiter weg passiert – auch, wenn es nur eine Straße entfernt ist.

Zugriff in Echtzeit

Wenn ich das Gefühl hatte, keine Informationen mehr zu haben, sprach ich mit Zoran, meinem Chef im Internationalen Büro in Atlanta, oder legte eine kurze Pause ein, um neue Informationen zu sammeln oder mit Augenzeugen zu sprechen.

Zoran koordinierte das mit allen CNN-Sendezentralen und wartete auf meine Rückkehr. Während der Kampfhandlungen tat ich das vier- oder fünfmal und konnte dann immer mit mehr Informationen auf Sendung gehen, als wenn ich in meiner Position geblieben wäre. Außerdem arbeitete ich mit einem Kopfhörer in jedem Ohr.

Auf dem einen Ohr konnte ich unseren Liveton hören, auf dem anderen war mein Produzent. Er fütterte mich mit präzisen Kurzinformationen und offiziellen Statements, sodass ich in Echtzeit Zugriff auf die aktuellsten Entwicklungen hatte.

Schmaler Grat

Es besteht kein Zweifel? daran, dass Satellitenschüsseln verlässlichere, sauberere, schärfere Bilder liefern. Doch wenn es darum geht, Breaking News auf Sendung zu bringen, zeigt sich, wie vorteilhaft eine Ausrüstung wie das CNN? DNG (Digital News Gathering) Equipment ist. Sie ist einfacher zu bewegen, schneller einsatzbereit und dadurch wie maßgeschneidert für chaotische und unvorhersehbare Nachrichtenereignisse. Wobei man sich als Journalist in solchen Situationen natürlich immer auf einem schmalen Grat bewegt: Inmitten der Tragödie darf man nicht als ein Eindringling in persönliche Trauer erscheinen.

Während der Tag verstrich, wurde klar, dass die Ereignisse sich in die schlimmste vorstellbare Richtung entwickelten. Es war aufreibend, aber alle Journalisten arbeiteten zusammen, Seite an Seite mit den Angehörigen der Opfer.

Jeder Journalist, der Zeuge solcher Vorgänge wird, muss das Gesehene rationalisieren. Ich hatte meinen Arbeitstag begonnen in dem Glauben, eine Geschichte über die unerschrockene Wache der Eltern und Verwandten zu drehen, und ich beendete ihn mit einem Zusammenschnitt der schrecklichen Ereignisse. Ich fühlte mich leer und müde, aber ich wusste, dass noch grausigere Wahrheiten ans Licht kommen würden. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.9.2004)