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Ein Versagen der Politik, der Führung, der Leistungsfähigkeit und - vor allem - der Vorstellungskraft: Aufräumarbeiten am Ground Zero.

Foto: Reuters
Der Titel von Michael Moores in Cannes preisgekröntem Film Fahrenheit 9/11 ist gut gewählt. In Anspielung auf Ray Bradburys Fahrenheit 451, wo es um Bücherverbrennungen ging, bezeichnet er den Punkt, an dem Stahlträger Feuer fangen: Ein spektakulärer Vorgang und zugleich eine Zeitenwende, nach der nichts mehr so war wie zuvor und die gesamte Werteskala neu bestimmt werden musste. Zum besseren Verständnis fange ich bei mir selbst an.

Am 12. September 2001 besuchte ich einen Vortrag von Susan Sontag in der American Academy zu Berlin. Es kann auch am 11. 9. gewesen sein - der Zeitunterschied zu New York beträgt sechs Stunden - denn der Vortrag (vielleicht war es auch eine Lesung) wurde kurzfristig abgesagt. Stattdessen hielt Susan Sontag beim Dinner, das die Akademie ihr zu Ehren veranstaltete, eine kurze Tischrede, in der sie keine eindeutige Position bezog.

Um meinen vorzeitigen Aufbruch zu entschuldigen - ich musste anschließend zu einer Podiumsdiskussion - meldete ich mich beim Kaffee zu Wort und stammelte ein paar hilflose, aber gut gemeinte Worte über transatlantische Solidarität. Obwohl wir uns seit Jahrzehnten kennen, drückte Susan Sontags Blick eine gewisse Skepsis aus, deren Sinn ich erst verstand, als ich Tage später ihre Stellungnahme zu den Terroranschlägen las: eine geharnischte Kritik an der Bush-Administration, deren Medienpolitik sie mit sowjetischen Zensurmethoden verglich, gipfelnd in der Schlussfolgerung: "Feige waren die Mörder nicht."

Von diesem Text hat Susan Sontag sich später halbherzig distanziert, während ich meine von Empörung diktierte Reaktion, einen offenen Brief, in dem ich ihr vorhielt, Totalitarismus und Demokratie in einen Topf zu werfen, partiell zurücknahm. Ein längerer Aufenthalt in den USA hatte mir den Konformismus der dortigen Presse vor Augen geführt, die sich in freiwilliger Selbstzensur den Sprachregelungen des Pentagons unterwarf - was heute so nicht mehr stimmt: Der Folterskandal von Abu Ghraib, Saddam Husseins nicht auffindbare Massenvernichtungswaffen sowie Fehleinschätzungen und gezielte Desinformation der Geheimdienste haben die amerikanische Öffentlichkeit eines Besseren belehrt.

Im März dieses Jahres, ich glaube, es war an St. Patrick's Day, hörte ich in einem irischen Pub in St. Louis einen Satz, der mich aufhorchen ließ. "Osama didn't do it", sagte mein Tischnachbar und stierte mich über sein gefülltes Bierglas hinweg an, "Osama war's nicht." Er sagte diese Worte in ruhigem Ton: so als sei Osama Bin Laden ein alter Bekannter von ihm, ein Saufkumpan vielleicht, der ihm glaubhaft versichert hatte, er habe mit dem Angriff aufs World Trade Center nichts zu tun. "Wer war es dann?"

Der Barbesucher nahm einen kräftigen Schluck und fixierte mich lange und eindringlich, bevor er sich zu der Auskunft bequemte: "Some foreign secret service!" Damit war Israels Geheimdienst Mossad genannt, aber weil der Mann sich nicht sicher war, ob er nicht einen Juden vor sich hatte - mein seltsamer Akzent wies in diese Richtung - zog er es vor, den Sachverhalt vage zu umschreiben.

Die Anekdote ist symptomatisch in zweierlei Hinsicht: zum einen, weil sie die in Umlauf befindlichen Verschwörungstheorien, die mit Matthias Bröckers und Andreas von Bülow auch bei uns Fürsprecher finden, auf die kürzeste Formel bringt; zum anderen, weil sie Opfer zu Tätern erklärt und damit für psychologische Entlastung sorgt. Bekanntlich arbeiteten in den Twin Towers, wie überhaupt an der Wall Street, viele jüdische Amerikaner, die am Tag X, vom Mossad gewarnt, angeblich ihren Büros fernblieben: eine unbewiesene Behauptung, Latrinenparole ist das passende Wort dafür, die ich kurz nach dem 11. September im Basar von Peshawar und Islamabad zu hören bekam - von Muslimen, die nach eigenem Bekunden noch nie einen Juden gesehen hatten, weil es in Pakistan und Afghanistan gar keine gibt.

Dass unter den Opfern der Terroranschläge chinesische Computerexperten und japanische Sushi-Köche waren, puerto-ricanische Putzfrauen und Wachpersonal aus Haiti und Bangladesch, weil die Angestellten der Hochhaustürme einen repräsentativen Querschnitt der New Yorker Bevölkerung bildeten, kommt nicht vor in dieser eindimensionalen Sicht, die wie alle Verschwörungstheorien jeden Widerspruch ausblendet: Die Verteufelung Israels oder der USA zum Sündenbock für alle Übel der Welt funktioniert nur, wenn man die komplexe Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nimmt.

Die ursprüngliche Reaktion auf den 11. September, Fassungslosigkeit und Entsetzen nicht nur in der westlichen, sondern auch in der arabischen Welt, ist in Vergessenheit geraten, verschüttet und verdunkelt durch die politischen Folgen dieses Großereignisses. Damit meine ich den Feldzug gegen den Terror, dessen Ziel und Zweck, einschließlich der eingesetzten Mittel, sein selbst ernannter Anführer George Walker Bush nur vage formuliert hatte und bewusst im Unklaren ließ, um sich alle Optionen offen zu halten.

Die Missachtung der Genfer Konvention war hierin mit angelegt, ebenso wie die diplomatische Brüskierung der Verbündeten und deren Ersetzung durch eine "Koalition der Willigen", die im Kampf gegen die "Achse des Bösen" an kein vertragliches Regelwerk gebunden war, denn zur Unschädlichmachung von Schurken ist jedes Mittel recht. Damit nicht alles falsch wird, eine Klarstellung: Die terroristische Bedrohung ist kein Hirngespinst einer Hand voll Hardlinern im Weißen Haus in Washington.

Die Bedrohung ist real, weil die Grenze zwischen radikalen und gemäßigten Muslimen schwer zu ziehen ist: Letztere bilden das Umfeld, in das der harte Kern eingebettet liegt und aus dem er seine gewaltbereiten Anhänger rekrutiert. "Die Ungläubigen müssen sich dem Koran unterwerfen - nicht umgekehrt", sagte mir als Reaktion auf den Terrorangriff Zia Ul Haq, Hauptprediger der Moschee von Akhora Kottak, von der die Taliban-Bewegung ihren Ausgang nahm: Ein alter Mann mit manikürten Fingernägeln und gelocktem Bart, der nicht mit Schaum vor dem Mund sprach, sondern in salbungsvollem Ton, als äußere er eine Selbstverständlichkeit.

Koranschüler schrieben jedes seiner Worte mit, Kanonenfutter für den Djihad, zum Märtyrertod programmiert von Mullahs, die ihre Hände in Unschuld wuschen.

Auch ohne Aufkündigung des politischen Fairplay durch die Bush-Administration hätten die Vereinigten Staaten auf die Herausforderung des 11. September mit einem massiven Militärschlag reagiert. Gezielte Nadelstiche wie die Bombardierung einer angeblichen Chemiewaffenfabrik, in der in Wahrheit Malariamittel hergestellt wurden, hatten keinerlei Wirkung gezeigt.

Dabei hatte der von Bill Clinton abgestrafte Sudan mit dem Bombenanschlag auf die US-Botschaft im Nachbarland Kenia nichts zu tun - im Gegenteil: Der sudanesische Geheimdienst hatte die CIA frühzeitig auf Osama Bin Ladens Aktivitäten aufmerksam gemacht.

Anders lagen die Dinge in Afghanistan, dessen Taliban-Regime dem Terrornetzwerk Al-Kaida Obdach und logistische Unterstützung bot und schwerste Menschenrechtsverletzungen beging: Ehebrecherinnen wurden gesteinigt, Homosexuelle lebendig begraben, und die Buddha-Statuen von Bamian, unersetzliche Zeugnisse der Gandhara-Kunst, trotz UNO-Einspruch gesprengt - ganz zu schweigen vom Heroinschmuggel, dessen Erlös den Taliban zum Ankauf von Waffen diente.

Dass die Koranschüler, ähnlich wie vorher die Mudjahedin, mit Geld und Waffen aus den USA die Macht ergriffen, steht auf einem anderen Blatt. Trotzdem waren und sind die Proteste gegen die Militärintervention in Afghanistan quantitativ und qualitativ nicht vergleichbar mit denen gegen die Invasion des Irak, die politisch auf schwachen Füßen stand, auch wenn Saddam Husseins gewaltsamer Sturz moralisch gerechtfertigt war.

Es ist eine Binsenweisheit zu sagen, das die US-Armee, statt den Terrorismus einzudämmen, Öl ins Feuer gießt und aggressiven Fanatikern jeder Couleur Auftrieb gibt. Dass die Kritiker des Irak-Feldzugs dieses Ergebnis vorausgesehen haben, ist kein Grund für das alte Europa, sich bequem zurückzulehnen und befriedigt die Hände zu reiben.

Die klammheimliche Schadenfreude, die manch einer empfindet angesichts des amerikanischen Debakels im Irak, ist kontraproduktiv, denn in Bagdad, Falluja und Nadjaf verteidigen die USA die Werte, auf denen - allen Meinungsverschiedenheiten zum Trotz - auch die europäische Gemeinschaft beruht. Und es ist zutiefst unredlich, sich unter den amerikanischen Schutzschild zu ducken und jedes Mal Zeter und Mordio zu schreien, wenn die USA die Rolle des Weltpolizisten spielen, die Europa ihnen zugedacht hat.

So viel zur Erblast des 11. September, die das historisch gewordene Geschehen dieses Tages überlagert hat. Obwohl der Krieg gegen den Terrorismus mehr Opfer forderte als der Absturz der entführten Flugzeuge und der Einsturz der Hochhaustürme, sollte der ursprüngliche Impuls nicht zerredet werden, den Millionen von Menschen angesichts der Fernsehbilder empfanden: Betroffenheit ist ein zu schwaches Wort dafür - Sprachlosigkeit und Schock, Angst und Schrecken bis hin zur Panik.

Die Ohnmacht, die darin zum Ausdruck kam, war ehrlicher als die gepflegte Analyse am grünen Tisch, die das bis dahin Unvorstellbare mit Fragen nach dem Wie, Warum und Wozu der politischen Tagesroutine unterwarf. "Das Unbeschreibliche, hier ist's getan" - dieser Vers aus dem Schlusschor von Goethes Faust kam mir in den Sinn, als ich einen verzweifelten Mann, vielleicht war es auch eine Frau, aus dem Fenster eines brennenden Wolkenkratzers springen sah, "live", wie es zynischerweise heißt, denn dies war kein apokalyptischer Hollywoodfilm, sondern Realität, und die in die Tiefe stürzende Person sah aus wie ein Meteor, eine Sternschnuppe, die nur einen Lidschlag lang zu sehen ist, bevor sie in der Atmosphäre verglüht und sich beim Aufschlag auf den Boden pulverisiert: so wie es mit den Menschen hier geschah, von denen nichts übrig blieb außer Mitteilungen auf Anrufbeantwortern, die wie Botschaften aus dem Jenseits klingen.

Sie alle hatten Partner und Kinder, Freunde und Verwandte, und es ist bezeichnend, dass die Angehörigen der Opfer es waren, die durch ihr hartnäckiges Insistieren die Regierung zwangen, Rede und Antwort zu stehen, Versäumnisse einzuräumen und öffentlich Stellung zu beziehen zu dem, was vor und nach dem 11. September geschah.

Welches ist die richtige Reaktion auf die Terroranschläge? Bedingungslose Solidarität, wie Gerhard Schröder sie beim Augenschein am Ground Zero den amerikanischen Verbündeten versprach? Oder Schwarzfilm, mit dem Michael Moore den Soundtrack der einstürzenden Hochhäuser unterlegt? Gibt es überhaupt eine dem Geschehen angemessene Reaktion?

Im August 1998 stand ich in Kenia vor der rauchenden Ruine der US-Botschaft, die kurz zuvor von Selbstmordattentätern gesprengt worden war, und habe geholfen, Verschüttete aus den Trümmern zu bergen, unter ihnen eine blonde Frau in Bluejeans, deren Kopf nur noch eine breiige Masse war, und einen Mann im dunklen Anzug, der sein Gedärm wie ein Paket im Schoß hielt: Bilder, die du nie wieder loswirst, selbst wenn du sie nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen hast. Es gibt keinen adäquaten Umgang mit solchen Erlebnissen - nicht bloß Opfer und Überlebende, auch Journalisten und humanitäre Helfer sind hinterher traumatisiert.

Der Anschlag in Nairobi war der Startschuss zu einem Amoklauf, der eine nicht getrocknete Blutspur rund um den Erdball gezogen hat, wobei es den Al-Kaida-Terroristen, anders als ETA, IRA oder RAF, darum geht, so viele Unbeteiligte wie möglich zu töten - einschließlich Kindern wie im Madrider Atocha-Bahnhof und in der Grundschule Nr. 1 von Beslan. "

Doch an jenem Tag im September waren wir auf dieses Geschehen nicht vorbereitet", schreibt die vom US-Kongress eingesetzte Untersuchungskommission in ihrem Abschlussbericht. "Wir begriffen die Größenordnung der Bedrohung nicht: ein Versagen der Politik, der Führung, der Leistungsfähigkeit und - vor allem - der Vorstellungskraft." (DER STANDARD, ALBUM, 11./12.9.2004)