Alle lügen. Die Nachbarn und die Kollegen, die Schulstrawanzer und die Fremdgeher, die Wettervorhersage ohne Absicht, die Wahrsagerin ohne Unterschied. Die Politiker vor allem und die Zeitungen sowieso "wie gedruckt".

Dass es niemand mit der Wahrheit so genau nimmt bzw. dass man das gar nicht erst annimmt, gehört zur täglichen Erfahrung, es ist ebenso selbstverständlich wie die abendländische Berufung auf die Zehn Gebote, deren eines das falsche Zeugnis ausdrücklich untersagt. Mehr noch, das geschwindelte Aper¸cu, die falsche Schmeichelei sind in vielen Kulturkreisen geradezu das Schmieröl des sozialen Lebens; Wien kann sich da einer herausragenden Stellung rühmen.

Bei allen amüsanten bis fatalen Praktiken von Unwahrheit gibt es aber eine Domäne, in der sie per definitionem nichts verloren haben dürften: die Wissenschaft. Sie versteht sich als die Praxis, in der Aussagen, die zum Wissensgewinn beitragen, auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden. Folgt man dieser Definition, dann hat man sozusagen einen Lügendetektor und kann Aufklärung von Aberglauben, Wissen von Dunkelmännertum, persönliche Fantasien von objektivierbaren Sachverhalten unterscheiden.

Aber wer folgt ihr heute noch? Die Skepsis gegenüber der Wissenschaft als Agentur der korrekten Wahrheitsgewinnung ist in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen, teils parallel zu deren immer exklusiverem Anspruch, teils als Reaktion auf ihn - und auf die bekannt gewordenen Fälle, in denen im Wissenschaftsbetrieb selbst gelogen und betrogen wurde.

Dabei sind letztere noch die einfacheren, weil klar erkennbaren Probleme. Regelmäßig werden sie bekannt, vor einiger Zeit etwa der Fall des deutschen Forschers Jan Schön, dessen verblüffende Ergebnisse am renommierten Bell Lab/Lucent so lange nicht repliziert werden konnten, bis aufflog, dass er sie erfunden bzw. zurechtgebogen hatte. Ein klarer Fall von Schwindel, an dem man die selbstreinigende Kraft der Wissenschaftsgemeinde sehen kann.

Man kann an ihm aber auch ablesen, wie lange die Interessenskoalition von Mitarbeitern und Koautoren und die Wissenschaftsgläubigkeit von Lesern eine Fiktion aufrechterhalten. Erst recht wurde das im berühmt gewordenen Fall des Physikers Alan Sokal deutlich, der vor acht Jahren einen gewollt unsinnigen Text über die "Hermeneutik von Quantenschwerkraft" in der akademischen Zeitschrift Social Text veröffentlichte und diese dadurch schwerst blamierte - als er seinen Nonsens aufdeckte. Was wäre passiert, wenn er das nicht getan hätte?

Es wäre so oder so aufgeflogen, sagen die Hüter des Grals wahrer Wissenschaft. Unsaubere Praktiken, Schwindel und Jux seien etwas anderes als die objektive Bewegung des Wissens, die dem Kanon der internen Stimmigkeit und Überprüfbarkeit folgt. Diese Gegenüberstellung aber setzt etwas voraus, das längst angezweifelt wird.

Man könne nicht, lautet der Einwand, zwischen der Wissenschaft als sozialer Praxis (mit allen ihren Schwächen) und dem "reinen" Kern des Wissens trennen. Was Popper noch als Clearinghouse postuliert hat - die Kraft des herrschaftsfreien Diskurses innerhalb der scientific community, die von selbst die beste Lösung eines Problems findet -, ist zerlegt worden in seine Bestandteile: geschicktere und weniger clevere Diskursteilnehmer, Empfänger von riesigen Forschungsetats interessierter Firmen, Seilschaften von Uni-Karrieristen, mehr oder weniger begabte Klavierspieler auf der Tastatur des bedeutsamen citation index - wer scheint wie oft in welchen prestigehaften Journals auf, wo ist die größte Ausbeute an zitierfähigen Beiträgen in den kommenden fünf Jahren zu erwarten usw.

Am Rande dieses Treibens gibt es in jeder Forschungsdisziplin die rein dem Wissen verpflichteten Könner, die uneigennützig und ohne Schielen auf die Karriere ihre Disziplin weiterbringen, Großartiges leisten und dafür von ihren Kollegen auch bewundert werden (in der Mathematik dürften sie häufiger als anderswo vorkommen). Doch sie bleiben Sonderfälle. In der öffentlichen Wahrnehmung dessen, was als Wissenschaft gilt, spielen sie keine Rolle oder nur dann, wenn sich ihnen ein Hollywood-Film widmet.

Typischer sind die Repräsentanten, die mit der Wirkung ihrer Tätigkeit umgehen gelernt haben, aus dem nachvollziehbaren Grund, dass sie nur dann weiter gefördert werden und nicht dem Verdikt zum Opfer fallen, sie betrieben irrelevante "Orchideen-Forschung". So entsteht eine Grauzone, in der zwar keineswegs gelogen, die eigene Arbeit aber mit einem Glanz versehen wird, der ihr nicht zukommt - nicht nur aus kosmetischen, auch aus wissenschaftlichen Gründen.

Ein Beispiel, das der Autor aus nächster Nähe miterlebt hat: Der Professor einer renommierten Ivy-League-Universität hatte in seinem epidemiologischen Studien bestimmte Prozentzahlen psychischer Gesundheit und Krankheit in einer Großstadtbevölkerung festgestellt. Als er sah, dass eine andere Studie ähnliche Prozente für eine ländliche Region ergeben hatte, ging er mit der Nachricht an die Öffentlichkeit: Städter genauso psychisch krank bzw. gesund wie Landbewohner! Dass die Studien weder in der Methode, noch in Zeitpunkt, Stichprobengröße oder sonst wie vergleichbar waren, fiel unter den Tisch. Für die New York Times war die Meldung stichhaltig, zwei Wochen später stand sie im Spiegel, und - was schwerer wiegt - danach galt sie als wissenschaftliches (und daher vertrauenswürdiges) Resultat.

Die Grauzonen machen eine klare Sicht schwer. Für die Wiener Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt gibt es mehrere Ebenen, auf denen mit den Phänomenen Wahrheit/Fälschung umzugehen wäre. Wie sie auf dem Philosophicum Lech (siehe nebenstehendes Interview) ausführen wird, zählt dazu ein Strukturwandel: Es gebe heute eine "Erweiterung der Akteure, die ein ,Recht' auf Mitsprache in wissenschaftlichen Agenden anmelden, und einen Wandel in den sozialen Strukturen (Karrieremuster, Wettbewerb, Schutz des geistigen Eigentums, etc.). Dadurch erhält auch die Frage nach der Grenze wissenschaftlichen Handelns neue Dimensionen."

Dass dem Wildwuchs des Agierens, gar den Fälschungen mit Regelwerken der Ehrlichkeit (siehe Webtipps) beizukommen ist, bezweifelt sie. Im Übrigen stellt sich die Frage, wie man die Irrläufe wissenschaftlicher Praxis denn anders untersuchen soll als wiederum mit wissenschaftlicher Methode. Damit aber gerät man in einen infiniten Rekurs, denn dies wird nun genauso angreifbar. Ganz abgesehen davon, dass die Nicht-Spezialisten die meisten Forschungsgebiete in keiner Weise mehr verstehen, auch die nicht, die signifikant in ihr Leben eingreifen.

Die Forderung, die dann an solche Forschung gerne gestellt wird, ist, dass sie "für die Gesellschaft gut" sein soll. Nur: Wer entscheidet das wiederum? Und wie lange dauert es, bis sich die Folgen der Wissenschaft zeigen? Anders als eine saubere Versuchsanordnung sind diese Folgen kein wiederholbares Experiment. Die Hoffnung, dass die befassten Wissenschafter wenigstens ehrlich sein mögen, ist besser als nichts. Aber nicht viel besser. (Michael Freund/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11./12. 9. 2004)