Einer gängigen Auffassung zufolge hat der 11. September eine neue Ära der Geopolitik eingeläutet, die üblicherweise "Bush-Doktrin" genannt wird: Präventivkriege, Angriffe gegen die "terroristische Infrastruktur" (sprich: ganze Länder), und das Beharren auf dem Standpunkt, dass der Feind nur die Sprache der Gewalt versteht. Ich glaube, es wäre präziser, das als Likud-Doktrin zu bezeichnen.

 

Was am 11. September 2001 geschah, war nämlich in Wahrheit nichts anderes als dass die bisher nur gegen die Palästinenser angewendete Doctrin von der mächtigsten Nation der Erde übernommen und auf eine globalen Maßstab übertragen wurde: Nennen wir es die "Likudisierung" der Welt.

Um Irrtümern vorzubeugen: Mit "Likudisierung" meine ich nicht, dass zentrale Personen in der Bush-Regierung auf Kosten der USA für Israels Interessen arbeiten.

Was ich meine ist: Am 11. September sah sich Bush nach einer neuen politischen Philosophie um, die seiner Rolle als "Kriegspräsident" angemessen wäre. Und praktischerweise wurde ihm die gleich fix fertig von den bereits im Weißen Haus arbeitenden Likudisten mundgerecht serviert.

In den vergangenen drei Jahren hat George W. Bush diese Importideologie für seinen globalen "Krieg gegen den Terror" adaptiert. Sie war sein Leitbild in Afghanistan wie auch im Irak und könnte auch auf Syrien und den Iran ausgeweitet werden.

Bush hat für die USA genau dieselbe Rolle entworfen wie Sharon für Israel. In dieser Inszenierung kämpft die USA einen endlosen Krieg gegen letztlich irrationale Kräfte, die nichts weniger wollen als die totale Auslöschung der Vereinigten Staaten.

Und nun hat die Likudisierung auch auf Russland übergegriffen. In einem Treffen mit Auslandskorrespondenten machte Putin vergangenen Montag klar, dass er die Forderungen der Tschetschenen nach Unabhängigkeit nur als Speerspitze einer islamisch-tschetschenischen Strategie sieht, die von internationalen Fundamentalisten unterstützt wird, um den ganzen Süden Russlands zu unterminieren und die Unruhe auch in andere muslimisch dominierte Regionen des Landes zu tragen.

Tatsächlich ist nicht zu bestreiten, dass der Fundamentalismus in der muslimischen Welt dramatisch zugenommen hat. Das Problem besteht nur darin, dass es die Likud-Doktrin verbietet, darauf hinzuweisen, dass der Fundamentalismus in den Staaten wächst, wo der Krieg systematisch die zivile Infrastruktur zerstört hat und dadurch die Moscheen ihren Einfluss auf immer weitere Bereiche ausdehnen können - von der Erziehung bis zur Müllabfuhr. Das geschah in Gaza, das war in Grosny so und auch in Sadr City.

Sharon sagt, dass der Terrorismus eine Seuche ist, die weder Grenzen noch Zäune kennt. Aber so ist es nicht. Der Terrorismus gedeiht innerhalb der illegitimen Grenzen von Besatzung und Diktatur. Und er überschreitet diese Grenzen, um innerhalb jener Länder zu explodieren, die für Besatzung und diktatorische Herrschaft verantwortlich sind.

Wenn wir sehen wollen, wohin die Likudisierung führt, brauchen wir nur nach Israel zu schauen - ein Land, das paralysiert ist von Furcht und wütend die Brutalitäten leugnet, die es tagtäglich begeht. Es ist eine Nation, die von Feinden umgeben ist und dringend nach Freunden sucht - eine Kategorie, die allerdings nur den wenigen vorbehalten bleibt, die keine Fragen stellen . . .

Naomi Klein, kanadische Bestsellerautorin ("No Logo") und eine der gefragtesten Kolumnistinnen der USA, schreibt üblicherweise jeden zweiten Montag an dieser Stelle. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.9.2004)