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Die Strafrechtsreform der Erdogan-Regierung soll bereits mit Ende des Monats in Kraft treten.
Foto: REUTERS/DAVID MDZINARISHVILI
Nach heftigen Protesten im In- und Ausland will die türkische Regierung nun doch darauf verzichten, Ehebruch wieder unter Strafe zu stellen. In einem Spitzengespräch zwischen Außenminister Abdullah Gül, Justizminister Cemil Ci¸cek und Oppositionsführer Deniz Baykal einigte man sich auf den Verzicht, unmittelbar bevor Dienstagnachmittag eine Parlamentssondersitzung zur Beratung des neuen Strafgesetzbuches begann.

Die praktischen Auswirkungen, so ein Abgeordneter der Opposition, wären sowieso gleich null gewesen, weil kaum eine Ehefrau ihren Mann angezeigt hätte. Die Diskussion habe gezeigt, dass die türkische Gesellschaft solche Strafrechtsnormen nicht mehr akzeptiere. Die Strafbarkeit von Ehebruch war 1996 abgeschafft worden, nachdem das Verfassungsgericht festgestellt hatte, dass durch das Gesetz der Gleichheitsgrundsatz zwischen Mann und Frau verletzt wird.

Jahrhundertreform

Die Debatte über die Strafbarkeit von Ehebruch hatte in den letzten Tagen die "Jahrhundertreform" des türkischen Strafgesetzbuches, die als letzter Baustein im Rahmen der Harmonisierung türkischer Gesetze mit EU-Recht gedacht ist, völlig überlagert. Außenminister Abdullah Gül beklagte sich bitter über die seiner Meinung nach ungerechtfertigte Kritik von EU- Kommissar Günter Verheugen und etlichen anderen Politikern aus verschiedenen EU- Ländern.

Die AKP-Regierung war verärgert, dass durch die Kontroverse um die Verfolgung von Ehebruch die gesamte umfangreiche Reform der Strafgesetze "vom Tisch gewischt wird, für einen Paragrafen, der noch nicht einmal formuliert ist", wie Gül meinte.

Tatsächlich sieht die Reform des 1926 in Kraft getretenen Strafgesetzbuches umfangreiche rechtliche Verbesserungen für Frauen vor. Als "kleine Revolution" bezeichnet die Frauenrechtlerin Pinar Ilkkaracan von der Initiative "Women for Women's Human Rights", dass zukünftig Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wird, weil damit klar zum Ausdruck gebracht wird, dass die Ehefrau nicht Besitz des Mannes ist.

Auch die so genannten "Jungfrauentests" mit denen immer wieder junge Frauen und Mädchen terrorisiert worden waren, werden zukünftig zwar nicht komplett verboten, dürfen aber nur noch auf Anordnung eines Richters durchgeführt werden.

Komplizierter verhält es sich im Umgang mit den so genannten "Ehrenmorden", also Tötungen von Frauen und Mädchen, die angeblich durch unehrenhaftes Verhalten Schande über die Familie gebracht haben. Nach dem neuen Gesetz soll es für Morde, die aufgrund von Traditionsgesetzen verübt werden, keinen Strafnachlass mehr geben. Pinar Ilkkaracan und andere Frauenrechtlerinnen, die jahrelange Lobbyarbeit für eine strengere Bestrafung männlicher Familienangehöriger, die ihre Schwester oder Tochter umgebracht haben, hinter sich haben, fürchten, dass dennoch eine Hintertür offen bleibt. Der Verweis auf Tradition, so Pinar Ilkkaracan, lässt den Richtern Raum, Mord im Affekt zu erkennen und trotzdem mildernde Umstände einzuräumen.

Dennoch hält sie das Gesetz insgesamt für einen Fortschritt, weil im Prinzip die Frau nicht mehr wie früher nur als Teil der Familie sondern als Individuum mit eigenen Rechten anerkannt wird. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul; DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15.09.2004