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Die Strafrechtsreform der Erdogan-Regierung soll bereits mit Ende des Monats in Kraft treten.
Foto: REUTERS/DAVID MDZINARISHVILI
Ankara - In der Türkei steht der unter anderem von der Europäischen Union (EU) kritisierte Gesetzentwurf zur Bestrafung von Ehebruch nach dem Widerstand der Opposition offenbar vor dem Aus. EU-VertreterInnen hatten gewarnt, ein solches Gesetz könnte den von der Türkei angestrebten EU-Beitritt des Landes behindern.

Ehebruch-Gesetz wahrscheinlich vom Tisch

Die oppositionelle Republikanische Volkspartei CHP hatte sich entschieden gegen den Gesetzentwurf der Regierung ausgesprochen, der Ehebruch in der Türkei wieder unter Strafe stellen soll. Auf einer Eilsitzung am Dienstag kurz vor der entscheidenden Parlamentsdebatte zur Reform des Strafrechts einigte sich die CHP aber mit der Regierungspartei AKP auf ein gemeinsames Paket zu den angestrebten Reformen. BeobachterInnen gehen davon aus, dass wegen des angekündigten gemeinsamen Vorschlags das Ehebruch-Gesetz vom Tisch ist.

"Wir haben eine Übereinkunft getroffen, ein Gesetz voranzubringen, das Recht und Freiheit garantiert", sagte Justizminister Cemil Cicek nach der Sitzung. Weder er noch CHP-Chef Deniz Baykal oder Außenminister Abdullah Gül äußerten sich aber direkt zu dem Ehebruch-Gesetz. Ein CHP-Abgeordneter sagte, das Gesetz sei nicht explizit diskutiert worden. Die Zustimmung der AKP zu dem gemeinsamen Reformpaket sei aber als Bereitschaft gewertet worden, das Ehebruch-Gesetz fallen zu lassen.

Jahrhundertreform

Die Debatte über die Strafbarkeit von Ehebruch hatte in den letzten Tagen die "Jahrhundertreform" des türkischen Strafgesetzbuches, die als letzter Baustein im Rahmen der Harmonisierung türkischer Gesetze mit EU-Recht gedacht ist, völlig überlagert. Außenminister Abdullah Gül beklagte sich bitter über die seiner Meinung nach ungerechtfertigte Kritik von EU-Kommissar Günter Verheugen und etlichen anderen Politikern aus verschiedenen EU-Ländern.

Die AKP-Regierung war verärgert, dass durch die Kontroverse um die Verfolgung von Ehebruch die gesamte umfangreiche Reform der Strafgesetze "vom Tisch gewischt wird, für einen Paragrafen, der noch nicht einmal formuliert ist", wie Gül meinte.

Jungfrauentests nur mehr unter richterlicher Anordnung

Tatsächlich sieht die Reform des 1926 in Kraft getretenen Strafgesetzbuches umfangreiche rechtliche Verbesserungen für Frauen vor. Als "kleine Revolution" bezeichnet die Frauenrechtlerin Pinar Ilkkaracan von der Initiative "Women for Women's Human Rights", dass zukünftig Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wird, weil damit klar zum Ausdruck gebracht wird, dass die Ehefrau nicht Besitz des Mannes ist.

Auch die so genannten "Jungfrauentests" mit denen immer wieder junge Frauen und Mädchen terrorisiert worden waren, werden zukünftig zwar nicht komplett verboten, dürfen aber nur noch auf Anordnung eines Richters/einer Richterin durchgeführt werden.

Hintertürchen

Komplizierter verhält es sich im Umgang mit den so genannten "Ehrenmorden", also Tötungen von Frauen und Mädchen, die angeblich durch unehrenhaftes Verhalten Schande über die Familie gebracht haben. Nach dem neuen Gesetz soll es für Morde, die aufgrund von Traditionsgesetzen verübt werden, keinen Strafnachlass mehr geben. Pinar Ilkkaracan und andere Frauenrechtlerinnen, die jahrelange Lobbyarbeit für eine strengere Bestrafung männlicher Familienangehöriger, die ihre Schwester oder Tochter umgebracht haben, hinter sich haben, fürchten, dass dennoch eine Hintertür offen bleibt. Der Verweis auf Tradition, so Pinar Ilkkaracan, lässt den Richtern Raum, Mord im Affekt zu erkennen und trotzdem mildernde Umstände einzuräumen.

Dennoch hält sie das Gesetz insgesamt für einen Fortschritt, weil im Prinzip die Frau nicht mehr wie früher nur als Teil der Familie sondern als Individuum mit eigenen Rechten anerkannt wird. (Reuters/Jürgen Gottschlich aus Istanbul; D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 15.9. 2004)