Die türkische Regierung hat die Kurve gerade noch gekriegt. Minuten vor der entscheidenden Parlamentssitzung verzichtete die muslimisch-konservative Regierungspartei AKP auf die Vorlage eines Gesetzes, das Ehebruch erneut unter Strafe gestellt hätte, nachdem diese Strafandrohung schon vor fünf Jahren abgeschafft worden war. Ehebruch wird also auch künftig in der Türkei eine rein zivilrechtliche Angelegenheit bleiben.

Premier Recep Tayyip Erdogan hatte seinen konservativen Wählern, die auf österreichische Verhältnisse umgelegt dem rechten Flügel der ÖVP zuzuordnen wären, mit dem Ehebruchgesetz ein Zuckerl spendieren wollen. Der streng westliche Geschmack der von der EU geforderten epochalen Strafrechtsreform sollte gemildert werden. Was Erdogan nicht erwartet hatte, war das verheerende Echo in der EU auf seinen Plan. Dass nun die Regierung dieses Gesetzesvorhaben, das den europäischen Menschenrechtsnormen widersprochen hätte, so flott wieder über Bord warf, ist ein deutliches Zeichen für den enormen Anpassungswillen der Türkei an die Europäische Union.

Trotzdem ist diese Fehleinschätzung Erdogans Wasser auf die Mühlen jener, die in der EU gegen den Beginn der Beitrittsverhandlungen auftreten: Allein der Plan, ein solches Ehebruchgesetz zu installieren, zeige die tiefe Kluft zwischen Union und Türkei, der wichtige EU-Standards fehlen würden.

Dazu muss aber gesagt werden, dass kein Land - auch nicht Österreich - vor Verhandlungsbeginn alle EU-Standards erfüllte. Diese Standards wurden immer erst mit dem EU-Beitritt erreicht, und bis dahin hat Ankara noch mindestens zehn Jahre Zeit. Erdogan bleibt aber die Leistung, eine bahnbrechende Strafrechtsreform maximal miserabel präsentiert zu haben. (DER STANDARD, Printausgabe, 15. 9. 2004)